Canale Mortale (German Edition)
konnte.
Flavia ging jetzt über die kleine Brücke vor der Weinbar »Già
Schiavi«. Vor dem Laden blieb sie stehen. Antonia glaubte kurz, dass sie sich
vielleicht doch geirrt hatte und Flavia Wein besorgen wollte. Dann sah sie, wie
die Hausangestellte ein Handy herauszog und telefonierte. Sie ging, während sie
sprach, weiter und bog in die Gasse ein, in der sich der kleine Palazzo des
Conte befand. Im letzten Augenblick konnte Antonia noch sehen, wie Flavia dort
klingelte und im Eingang verschwand.
Antonia rannte fast die Gassen zum Palast zurück. Sie fand Jana
allein im Salon und fragte sie atemlos, ob sie einen Wohnungsschlüssel zur
Wohnung der Massatos im kleinen Palast habe.
»Nein. Die Schlüssel zum Palazzo Piccolo hat Großvater. Wie kommst
du denn jetzt auf den kleinen Palast?«
»Du hast dich doch neulich erst mit Guido dort getroffen, oder
nicht?«
Jana wurde rot. »Ja, manchmal treffe ich ihn. Zum Plaudern. Aber ich
habe keinen Schlüssel. Guido wartet meist in der Wohnung auf mich.«
»Und du triffst dich auch mit ihm in seiner Wohnung im Castello? Was
ist, wenn dein Großvater das erfährt?«
»Wie soll er es erfahren? Der kleine Palazzo steht leer, und ins
Castello hat mein Großvater sicher noch nie einen Fuß gesetzt. Das ist nicht
seine Welt.«
»Hast du ein Verhältnis mit Guido?«
Jana war das Thema sichtlich peinlich. »Ja, wir treffen uns ab und
an, aber unsere Situation ist nicht einfach. Manchmal küssen wir uns oder Guido
hält meine Hand. Aber Großvater und Mama würden es nicht verstehen, wenn sie
von dieser Verbindung wüssten. Ich muss ihn also heimlich treffen.«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als Ugo den Salon betrat.
»Weiß man schon, wie es Großpapa geht?«
Die beiden Geschwister rückten auf dem Sofa zusammen, als sei mit
dem Conte eine Art Schutz aus dem Haus gewichen und sie müssten sich nun gegen
weiteres Unheil wappnen.
»Wir müssen warten, bis Mama zurückkommt«, sagte Jana. »Dann wissen
wir mehr.«
»Es ist so ähnlich wie in Hamburg, als Papa gestorben ist, weißt du
noch?«, fragte Ugo mit kleiner Stimme, und Jana legte den Arm um die Schulter
ihres Bruders.
Für ihren letzten Abend hatte sich Rita gewünscht, noch einmal
die Sky-Bar des Hilton zu besuchen.
»Von der Dachterrasse hat man einen so schönen Blick bis zum
Dogenpalast. Den möchte ich unbedingt noch mal genießen.«
Florian war noch bei seinen Proben, und so fuhren die drei Frauen
ohne ihn zur Giudecca hinüber und spazierten zu der ehemaligen Getreidefabrik,
die man zur Nobelherberge umgebaut hatte. In der Halle nahmen sie den Aufzug in
den neunten Stock. Lautes englisches Geplauder schlug ihnen entgegen.
»Hier sind ja wieder nur Amis«, wunderte sich Rita.
»Überall, wo es teuer ist in Venedig, sind Amerikaner«, erklärte
Jana. Sie hatte sich wieder gefangen, nachdem ihre Mutter aus dem Krankenhaus
zurückgekommen war und berichtet hatte, dass der Zustand ihres Großvaters
stabil sei.
Sie suchten einen Stehtisch am Rand der Terrasse und bestellten sich
den üblichen orangefarbenen Spritz. Rita knabberte pausenlos die Nussmischung,
die man den Gästen gratis auf die eleganten Tischchen gestellt hatte, sodass
die Schale im Nu leer war. Als sich Jana nach einigen Minuten entschuldigte und
zur Toilette ging, beugte sich Rita zu Antonia hinüber und fragte:
»Was ist eigentlich mit Jana und dem Onkel?«
Antonia bewunderte Ritas Beobachtungsgabe. Sie schien allein durch
wenige Äußerungen Janas auf diesen Zusammenhang gekommen zu sein.
»Sie hat es nicht gerne, wenn man sie danach fragt. Aber sie sehen
sich regelmäßig. Und dieser Guido scheint auch Flavia, die Hausangestellte, zu
kennen. Jedenfalls meine ich, die beiden zusammen gesehen zu haben.«
Rita leerte ihr Glas und winkte einem Kellner.
»Un altro Spritz, per favore! Und noch ein paar Nüsse! Nuts please,
noci, per favore!«
Damit schob sie dem verdutzten Kellner die leere Schale zu.
»Das klingt ja so, als habe dieser Guido seine Finger weiter im
Palazzo, auch wenn er Hausverbot hat …«
Antonia sah aus dem Augenwinkel, dass Jana durch die Bar zurückkam,
und wechselte das Thema. Der höfliche junge Kellner stellte eine neue Schale
mit Knabbermischung vor sie auf den Tisch, und nach dem zweiten Spritz genoss
Rita ein letztes Mal den Blick von oben auf die Kulisse der Stadt.
»Jetzt habe ich aber richtig Appetit bekommen. Wohin gehen wir denn
zum Essen?«
Jana führte sie in ein versteckt liegendes Restaurant
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