Canale Mussolini
und her fahren lassen, bevor sie überhaupt anfangen zu arbeiten. Man muss sie dort in der Nähe der Baustelle schlafen lassen. Sie kennen die Geschichte von der Henne und vom Ei? Nun, hier ist das so. Hier sind nicht zuerst Straßen oder Kanäle entstanden, erst kamen die Siedlungen und dann die Trockenlegung.
Tatsächlich begann die Aushebung des Canale Mussolini 1928, aber zwei Jahre zuvor waren bei Cancello del Quadrato – dort, wo später Littoria entstehen sollte – die Gebäude des Konsortiums errichtet worden. Bis 1914 war bei Quadrato gar nichts gewesen außer einem Pferch für Tiere, der von einem Holzzaun eingefasst und mit einem Tor verschlossen war, daher der Ortsname Cancello del Quadrato.
1926 baute das Konsortium hier eine erste Siedlung, weil Quadrato genau in der Mitte des urbar zu machenden Gebiets liegt – auf halbem Weg zwischen Via Appia und Meer – und daher als Standort für die Direktionszentrale der Arbeiten ideal war, aber die eigentlichen Wasser kommen von oben, aus dem Norden, wie ich bereits sagte, und im folgenden Jahr gründete man, um mit dem Bau des Canale Mussolini beginnen zu können, das Arbeiterdorf Sessano, das heutige Borgo Podgora.
In Sessano gab es damals nichts, nur einen Bauernhof und einen Turm aus dem 16. Jahrhundert, im Besitz der Caetani. Aber keine Straße. Es gab einen Saumpfad oder besser gesagt eine Art Piste, die oft nicht passierbar war. Man musste also eine Straße bauen, um den Canale Mussolini ausheben zu können, folglich baute man das Dorf. Auf den ersten Landkarten ist da noch nicht einmal eine Kreuzung eingezeichnet, nun aber entstanden hier Häuser, eine Kirche, eine Krankenstation, die Wohnungen für die Ingenieure und Direktoren und – etwas abseits vom Zentrum – die Schlafbaracken für die Arbeiter. Man baute also das Dorf, um die Straße bauen zu können, um den Kanal ausheben zu können, und an alles Weitere würde man später denken.
Im Lauf der Menschheitsgeschichte entstehen Dörfer und Städte normalerweise fast ausnahmslos an Verkehrswegen. Durch den ständigen Verkehr – oder an Furten oder Kreuzungen mit anderen Wegen – ließ sich ab und zu jemand nieder und begann vielleicht, mit anderen Reisenden Handel zu treiben. Das spricht sich dann herum, und immer mehr Leute gehen dorthin, machen eine neue Bude auf, noch eine und noch eine, und so entsteht eine Stadt. Auch Rom ist so entstanden: als Handelsniederlassung, als Marktplatz und Ort des Austauschs zwischen Etruskern, Sabinern und Latinern. Normalerweise sind es also Straßen und Verkehr, die Städte entstehen lassen.
Im Agro Pontino war das genau umgekehrt, da waren es die Städte – diese Dörfer –, die die Straßen entstehen ließen. Und tatsächlich sind es »neue Städte«, denn sie sind nicht spontan entstanden, erst ein Haus hier, dann eins da, sondern als da noch gar nichts war, kam zunächst mal ein Stadtplaner und sagte: »Hierher kommt ein Haus, dorthin die Kirche, ein Gasthaus, der Carabinieri-Posten, der Hauptplatz und alles Übrige, und jedes Haus, das nachher gebaut wird, muss den und den Abstand von der Straße und von allem Übrigen einhalten.« Und sie fingen an zu arbeiten und die Mauern hochzuziehen.
Anfangs ist es das Konsortium – ein Zusammenschluss aus alteingesessenen Latifundienbesitzern –, das dem Sumpf den Kampf ansagt und mit dem Bau von Dörfern beginnt. Als sie loslegen, wissen sie allerdings noch nicht, wohin es gehen soll. Sie legen ein bisschen ins Blaue los, man braucht nur das Wasser zu beseitigen, und dann wird man schon sehen: Sie würden große mechanisierte kapitalistische Agrarbetriebe schaffen, und die vier oder fünf Dörfer, die man für die Trockenlegungsarbeiten gebaut hatte, könnten als Unterkünfte für die paar Arbeiter oder Tagelöhner dienen, die man in den Betrieben brauchen würde. Aus, fertig. Damals – 1928 – dachten sie nicht im entferntesten daran, dass ihnen dieser Hammer der ONC in die Quere kommen könnte, die sie einfach alle enteignete.
Diese Opera Nazionale Combattenti, ONC , war noch vor Auftreten des Duce und vor dem Faschismus entstanden, 1917, während des Ersten Weltkriegs. Nitti, ein linker Liberaldemokrat, hatte sie ins Leben gerufen, nicht nur, um den Kriegsopfern irgendwie Beihilfe zu leisten, sondern vor allem, um das Versprechen einzulösen, das nach Caporetto gegeben worden war, nämlich dass nach dem Krieg endlich »das Land den Bauern« gegeben würde. Die ONC hatte in Italien hier und
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