Canard Saigon (German Edition)
Gehsteig gefahren, durch die Seitentür in den Wagen gestiegen, hat von innen die hinteren Türen geöffnet und die Leiche hinausgeworfen. Marc untersuchte den Gehsteig auf Reifenspuren. Leider war dieser Bereich nicht abgesperrt. Wenn da Spuren gewesen waren, waren jetzt jedenfalls keine mehr zu sehen. Zu viele Menschen hatten sich an dieser Stelle aufgehalten. Marc nahm die Gehsteigkante in Augenschein. Tatsächlich entdeckte er winzige Spuren von Reifenabrieb an der Kante. Und die schienen frisch zu sein. Marc rief die Ermittler, die bereits die letzten Kartons verstauten, zu sich. Er wies sie an, die Gehsteigkante im gesamten Bereich der Fundstelle auf Gummiabrieb zu untersuchen. Missmutig packten sie ihre Utensilien wieder aus und begannen mit ihrer Arbeit.
Marc rief Josef Huttinger an. Er teilte ihm in kurzen Worten den Stand der Untersuchungen mit. Huttinger kündigte Marc an, dass er in Kürze zurückgerufen werde.
Ernst Oberhauser näherte sich mit einer Schar Fotografen dem Fundort. Marc ging zu seinem Dienstwagen und setzte sich auf den Fahrersitz. Er hatte keine Lust, sich den Fragen der Reporter zu stellen. Er notierte seine Beobachtungen und setzte hinter den Eintrag „Kastenwagen“ ein Fragezeichen. Routinemäßig sah er auf die Uhr und notierte die Zeiten. Sein Handy läutete. Am anderen Ende meldete sich, geschult höflich, eine Sekretärin. Sie teilte ihm mit, dass Dr. Ronald Seewald, Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, ihn um elf Uhr zu einem Meeting ins Bundesministerium für Inneres bat. Marc bestätigte den Termin und dachte, dass er es schaffen würde, pünktlich zu sein.
Vom Auto aus rief Marc den nur wenige Meter entfernt stehenden Ernst Oberhauser an.
„Ernst, ich mach mich auf den Weg nach Wien. Ich schulde dir etwas, weil du mir die Horde vom Leib gehalten hast. Übrigens, ihr habt tolle Arbeit geleistet, sehr professionell. Du kannst stolz sein auf deine Truppe.“
„Danke für die Blumen“, erwiderte Oberhauser mit etwas Stolz in der Stimme. „Aber für diese Show hier schuldest du mir mehr als ein Bier.“
„Ich komme darauf zurück“, lachte Marc. Er verabschiedete sich und fuhr nach Wien.
Wien, Donnerstag, 15. April 2010, 10.55 Uhr
Eine elegant gekleidete blonde Dame mittleren Alters eilte auf Marc Vanhagen zu, als er das Sekretariat betrat.
„Oberst Vanhagen“, sprach sie ihn mit seinem Namen an, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. „Würden Sie mir bitte folgen, die Herren erwarten Sie.“ Sie geleitete ihn zu einer massiven Tür aus dunklem Eichenholz. Die Sekretärin öffnete, ohne anzuklopfen, und meldete ihn an. „Herr Oberst Vanhagen“, sagte sie und schloss die Tür von außen, nachdem Marc eingetreten war. Der helle Raum war mittelgroß, mit einer Einrichtung vom Feinsten. Alte Stilmöbel aus einer Epoche, die Marc nicht benennen konnte, bildeten ein geschmackvolles Ensemble. Von der Anrichte über den Wandschrank, den Luster bis zu den Bildern samt Rahmen war alles fein aufeinander abgestimmt. Das Herzstück des Zimmers bildete eine wuchtige Chesterfield-Garnitur aus dunkelrotem Leder.
Die beiden Herren erhoben sich von ihren Plätzen, um Marc zu begrüßen. General Josef Huttinger, Chef des Bundeskriminalamtes, übernahm die Vorstellung.
„Oberst Vanhagen, Herr Generaldirektor Dr. Seewald.“ Sie schüttelten einander die Hände, und Seewald bot Marc an, sich zu setzen. Marc hatte den Generaldirektor für öffentliche Sicherheit noch nicht kennengelernt. Dr. Ronald Seewald hatte sein Amt am 1. Februar dieses Jahres angetreten. Er war 57 Jahre alt und hatte zuvor als Jurist im Rechnungshof gearbeitet. Seine Position bildete die Schnittstelle zwischen Behörde und Politik. Der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit war direkt dem jeweiligen Bundesminister für Inneres unterstellt und unterhielt ein besonderes Vertrauensverhältnis zu ihm. Seewald war, im Gegensatz zum bulligen, breitschultrigen Schlachtross Josef Huttinger, eine schlanke, vornehm gepflegte Erscheinung. Mit seinem perfekt sitzenden dunkelblauen Anzug, den handgefertigten Schuhen und der schlichten Brille in seinem glatt rasierten, blassen Gesicht wirkte er ein wenig steif und förmlich. Marc konnte sich gut vorstellen, welche Schwierigkeiten Dr. Seewald haben musste, sich in der rauen Welt des polternden Superbullen Huttinger zurechtzufinden. Welch ein Gegensatz. Hier der eitle, feingliedrige Jurist, da der im wahrsten Sinne des Wortes narbige Polizist, der die
Weitere Kostenlose Bücher