Canard Saigon (German Edition)
abgestempelt und von den Mitschülern verlacht worden. Seine schulische Leistung war gesunken, und das Resultat war eine tiefe Abneigung gegen den Unterricht. Nach einem Schulwechsel war der Karren schon verfahren. Marc hatte mit den neuen Lehrern über das Problem gesprochen. Alle, wirklich alle, hatten Verständnis geheuchelt und Rücksichtnahme versichert. In Wahrheit hatten sich die Pädagogen nur um ihre Wochenstunden gesorgt, das Problemkind blieb auf der Strecke. Michael hatte sich widerwillig durch die Pflichtschule gekämpft. Nach dem Wechsel in die Handelsakademie hoffte er auf mehr Verständnis beim Lehrpersonal, schließlich waren das Akademiker. Marc und Freddy hatten sich zwischenzeitlich schlaugemacht. Gemeinsam mit Michael hatten sie, mehr schlecht als recht, versucht, die Legasthenie privat zu beheben. Und sie hatten Fortschritte erzielt. Michael hatte seinen Unwillen gegen das Lesen überwunden. Er hatte sogar begonnen, Bücher zu lesen. Mit der Rechtschreibung hatte er noch seine Schwierigkeiten. Aber was er nach wie vor überhaupt nicht konnte, war vorlesen. Und genau das hatte jetzt seine Deutschlehrerin gefordert. Michael hatte mit Hinweis auf seine Behinderung verweigert, aber das Gänschen von einer Professorin hatte das als Ausrede und als Untergrabung ihrer Autorität aufgefasst. Sie hatte sich beim Direktor beschwert und eine Klassenkonferenz gefordert. Das war der Stand der Dinge.
Marc war verzweifelt gewesen, als Michael ihm die Geschichte gestern erzählt hatte. Er hatte versprochen, zumindest mit dem Direktor der Schule zu telefonieren. Marc und Freddy hatten sich vorgenommen, ihre Kinder so weit zu beschützen, dass sie die Schule ohne psychischen Schaden überleben würden. Aber bei Michael hatte er ein mulmiges Gefühl. Freddy und er konnten ihrem Sohn nur den bedingungslosen Rückhalt der gesamten Familie bieten. Und hoffen, dass er sich daran festklammern konnte.
Zu allem Überdruss hatte Michael beim letzten Training eine kleine Meinungsverschiedenheit mit seinem Trainer gehabt, der ihm mangelnde Einsatzbereitschaft vorgeworfen hatte. Er hatte gedroht, ihn für das heutige Spiel auf die Ersatzbank zu setzen. Und Michael konnte man viel, aber keineswegs fehlende Trainingseinstellung nachsagen. Im Gegenteil, denn privat trainierte er doppelt so viele Einheiten wie seine Mitspieler. Marc kannte den Jugendtrainer. Der war zweifellos ein Schwachkopf. Ein ehemaliger Spieler der Unterliga, von wirren Ideen besessen. Er paarte Arroganz und Dummheit zu einer gefährlichen Drohung gegen den gesunden Menschenverstand. Aber er genoss das Vertrauen des Präsidenten. Und er war der Trainer. Und er hatte das Sagen. Ein Dilemma. Marc hatte sich die Geschichte angehört. Er hatte Michael geraten, durchzuhalten. Ihm gesagt, dass er in seinem Leben immer wieder auf solche Vorgesetzte treffen würde. Er möge versuchen, Kompromisse zu schließen, und hoffen, dass sein nächster Trainer mehr Kompetenz mitbringe. Aber Marc war klar geworden, dass er in Wahrheit selbst keine Ahnung hatte, wie Michael diesem Problem wirkungsvoll begegnen sollte.
„Marc, hier ist die Liste“, sagte Christine Pinter und riss ihn aus seinen Gedanken. Sie legte ein Blatt Papier auf den Schreibtisch und ging wortlos zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Marc überflog die Aufstellung der Hinweise aus der Bevölkerung. Drei Personen hatten die Tat gestanden, alte Bekannte, die alle Mordfälle gestanden. Der Großteil der restlichen Informationen war unbrauchbar, da weder Zeit noch Ort zu den vorliegenden Erkenntnissen passten. Letztlich blieben vier, bestenfalls fünf Beobachtungen übrig, deren Überprüfung sinnvoll erschien. Eine wirklich heiße Spur war nicht dabei.
Er legte die Liste beiseite und las die Zeitungsartikel. Im Wesentlichen gaben sie die Presseaussendung wieder, die Christine gestern veröffentlicht hatte. Dann sah Marc seine E-Mails durch und besuchte, wie jeden Tag, kurz die Website der Dallas Cowboys. Da es keine Neuigkeiten gab, stieg er aus dem Internet aus.
Er konnte sich nicht überwinden, sich mit den Mordfällen zu beschäftigen. Da bist du Chef einer Ermittlungsgruppe und statt mit leuchtendem Vorbild ans Werk zu gehen, hockst du selber da wie ein Lahmarsch, dachte Marc. Ihm fehlte jeglicher Antrieb. Seine Gedanken schweiften wieder zu dem Fußballspiel seines Sohnes ab, das er nicht sehen würde. Er wollte sich zwingen, an die bevorstehenden Aufgaben zu denken, aber sein Gehirn streikte. Langsam
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