Cantucci-Herzen brechen nicht: Roman (German Edition)
herunterhingen an den meilenweit sich aneinanderreihenden Weinstöcken? An den zahlreichen elegant-knorrigen Olivenhainen? Es war alles so lebendig. Wo Lily auch hinblickte, überall machte die Natur sozusagen segensreiche Überstunden, versorgte üppigst die Pflanzen, bewässerte Felder und ließ alles im Überfluss erblühen. Das Kribbeln in Lilys Bauch tanzte fröhlich vor sich hin, bis sie um eine enge Kurve bog und fast auf einen großen Lastwagen aufgefahren wäre, der mitten auf der Straße stand. Es stellte sich schnell heraus, warum. Sie brauchte nur den Kopf aus dem Fenster zu strecken, um zu sehen, dass auf der anderen Spur ein zweiter, nicht minder großer Lastwagen stand, der aus der Gegenrichtung gekommen war. Die Straße war nicht breit genug für beide. Lily konnte hören, wie die beiden Fahrer sich hinter dem Lenkrad ihres jeweiligen Sattelschleppers anbrüllten. Es dauerte nicht lange, und der erste stieg aus, dann der zweite, also stieg Lily ebenfalls aus, aber ganz schnell wieder ein, als einer der Fahrer, der eigentlich zu alt aussah, um so ein schweres Fahrzeug zu steuern, verstohlen in seinem Führerhaus nach einem riesigen Schraubenschlüssel griff.
In diesem Moment bemerkte Lily rechts von ihr einen ungeteerten Feldweg, und sie beschloss, ihn auszuprobieren, statt hier herumzusitzen und Zeugin einer Katastrophe zu werden, die sich eindeutig zwischen den Truck-Fahrern anbahnte.
Der Weg war schmal und ziemlich steil, aber nach einer halben Meile wurde er breiter, und Lily fand sich, vermutete sie, in dem Tal wieder, das sie von ihrem Zimmer aus betrachtet hatte. Sie war sich sicher, dass sie in der Ferne Bagno Vignoni erkannte und noch ein Stück weiter hinten am Horizont den anderen kleinen befestigten Ort, den sie von der Thermalstadt aus gesehen hatte.
Während sie sich auf den Horizont konzentrierte, fuhr sie buchstäblich blindlings in eine Ziegenherde. War die Spur vor ihr gerade noch völlig einsam und leer, endete sie plötzlich nach der nächsten Kurve in einer wogenden Masse von unzähligen Ziegen. Sie standen einfach überall, umschwemmten den Wagen, mähend und blökend, waren bis zur nächsten Biegung zu sehen und standen bestimmt noch dahinter.
Lily saß völlig perplex hinter ihrem Steuer und überlegte, was sie tun sollte. Natürlich würde sie nicht durch die Herde fahren. Sie hatte nicht viel Ahnung von Ziegen, fand aber, dass diese hier größer wirkten als die, die sie so kannte. Es waren auch Lämmer darunter. Sie würden womöglich unter die Reifen kommen, und das wollte sie ganz sicher nicht riskieren.
Lily stellte den Motor ab. Der Ziegenhirte, falls man ihn heute noch so nannte, konnte nicht weit sein. Er würde doch diese Tiere nicht für längere Zeit unbeaufsichtigt lassen. Sie würde halt warten.
Sie beobachtete, wie ein Lamm von seiner Mutter getrennt wurde und in der dicht gedrängten Herde in Panik geriet. Es versuchte immer wieder, den Kopf aus der Schar zu heben, um seine Mutter zu entdecken, aber es war viel zu klein. Die Mutter wiederum rief nach ihm, den Kopf nach oben gereckt, mit wild rollenden Augäpfeln, während ihr Junges ständig weiter abgedrängt wurde.
Schließlich konnte Lily das Drama nicht länger mitansehen. Sie drückte ihre Tür vorsichtig auf und stieg aus, um das Lamm zu retten, wodurch aber die Ziegen direkt neben der Wagentür in Unruhe gerieten. Und bevor sie sich’s versah, wurde das Lamm in den Strudel der Herde gesogen, fort von seiner Mutter, was Lilys spontane Hilfsaktion abrupt stoppte.
Zwischenzeitlich hatten die Ziegen die Tür zugedrückt und belagerten das Auto rundum von außen, sodass Lilys Rückzug ins Innere des Wagens unmöglich wurde. Zu allem Überfluss sprang dann noch ein Ziegenbock aus dem Gewühl und stellte sich mit den Vorderbeinen herausfordernd auf die Motorhaube des Fiat. Er glotzte Lily direkt an, in seinen Knopfaugen glänzte purer Vorwurf.
Das genügte Lily nun wirklich. Zusätzlich begann die säuerliche Ausdünstung von gefühlten tausend Ziegen nicht nur unangenehm in ihre Nase, sondern auch in ihre Kleider zu dringen. Sie wandte sich um und sah nach hinten, aber zwei Ziegen schubsten sie in dem Moment kraftvoll zur Seite und drängten sie unerbittlich vom Wagen weg – in die Herde hinein. Na gut, würde sie halt sehen, dass sie sich weiter unten aus dieser unerquicklichen Situation befreien konnte. Dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, kümmerte sie derzeit wenig. Welches denkende
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