Cantucci-Herzen brechen nicht: Roman (German Edition)
mit ihr am Tisch wie Geister, die Rücken dem grünen, fruchtbaren Tal zugekehrt, das hinter ihnen in der Ferne abfiel.
Lily leerte ihr Glas so schnell, dass sie kaum etwas schmeckte. Cookies backen? Aus welchem Hut sollte sie das hervorzaubern? Sie zwinkerte ihre unsichtbaren unerwünschten Gäste weg und sah sich um.
Das Café war fast leer, bis auf zwei Touristen, die weit weg in der Ecke saßen und die Bilder in ihrer Digitalkamera betrachteten, sowie eine alte, zappelige Dame am Nebentisch.
»Noch einen Prosecco, per favore«, sagte Lily, als die Kellnerin kam, um ihr Wasserglas aufzufüllen, aber als sie zurückkehrte, brachte sie zu Lilys Entsetzen kein Getränk mit, sondern eine Glasschale mit Tiramisu.
Lily wich davor zurück. »Nein, nein, nein, das ist nicht für mich«, sagte sie und deutete auf die alte Frau am Nebentisch. »Das ist sicher für die Dame.«
Die Kellnerin machte ein verwirrtes Gesicht, dann rasselte sie etwas auf Italienisch zu der alten Dame herunter.
»Sie sagt, Sie können es gerne haben, wenn Sie möchten«, übersetzte die Kellnerin, aber Lily war bereits aufgestanden und wandte sich zum Gehen.
»Nein, danke«, erwiderte sie und wartete nicht auf die Rechnung, sondern warf einen Geldschein auf die Theke neben der Kasse. »Kein Hunger.«
Lily konnte keinen zweiten Tiramisu-Zwischenfall brauchen, darum stieß sie etwas später mit einer gewissen Erleichterung die Tür zur Pasticceria auf und verharrte einen Moment in der stillen Kühle des dunklen, süß duftenden Raums.
Die vertrauten Schüsseln mit alten, stummen Cantucci saßen auf ihren Thronen und sogen das Licht auf durch das Schaufenster.
»Eeeoooh«, sagte die große blaue Schüssel direkt vor ihr. »Eeeoooh.«
Lily machte einen Satz rückwärts, und ihr Herz klopfte laut. Sie hatte nur ein Glas Prosecco getrunken. Wie konnte das schon wieder passieren?
»Eeeoooh«, hörte sie wieder. Und wieder. Und noch einmal. Aber das war alles. Keine Ermahnung, nichts, das einem Rat fürs Leben ähnelte, nur ein ferner Ruf. Sie ging einen Schritt näher auf die Schüssel zu. Das Rufen hielt an, aber es kam nicht von den Cantucci, sondern von irgendwo dahinter.
Zögernd ging Lily weiter und spähte über die Theke. Dort war nichts.
»Eeeoooh«, vernahm sie wieder, aber nun, da sie näher dran war, erkannte sie, dass es von dem verstaubten Regal an der hinteren Wand zu kommen schien.
Sie ging hinter die Theke und inspizierte das Regal genauer.
»Eeeoooh! Eeeoooh!« Es kam eindeutig von dahinter.
Lily hielt wenig von Spuk und Zauberei. Es war nur ein Glas, dachte sie wieder. Es musste eine logische Erklärung geben. Sie bildete sich das nicht ein. Es passierte wirklich. »Hallo?«, rief sie. »Hallo!«
»Lily!«, kam als Antwort. Es klang wie Violetta. Steckte sie hinter dem Regal fest?
»Ja, ich bin’s, Lily«, rief sie zu der Wand. »Wo sind Sie?«
»Schieben! Schieben!«
»Schieben?«, wiederholte Lily und fragte sich, was das in Englisch bedeutete. »Was meinen Sie?«
»Schieben Sie! Schieben Sie das Regal zur Seite!«
Lily drückte die Schulter gegen das staubige Regal, und nach geringer Kraftanstrengung glitt es tatsächlich zur Seite und enthüllte eine schmale dunkle Treppe dahinter.
»Sie sprechen Englisch?«, fragte Lily, nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Sie konnten die ganze Zeit …«
Violetta saß auf einem kleinen Treppenabsatz unten und tätschelte sanft etwas, das aussah wie ein Haufen Lumpen.
»Sie ist verletzt«, sagte die alte Frau. »Luciana ist verletzt.«
»Ich rufe sofort den Notarzt«, sagte Lily und drehte sich um.
»Nein! Wir müssen sie hochtragen«, sagte Violetta. »Die Treppe hoch. Ins Bett.«
»Wirklich, sie sollte am besten nicht bewegt werden. Das könnte ihr sonst noch mehr Schaden zufügen.«
»Sie will keinen Notarzt. Sie will ins Bett.«
»Ich denke wirklich, ich sollte …«
»Bitte! Helfen Sie mir«, flehte Violetta. »Wir müssen sie hochtragen.«
Es schien keinen Sinn zu machen, weiter zu diskutieren, und nachdem Lily die fast unmögliche Aufgabe gemeistert hatte, die zerknautschte alte Frau auf dem engen Raum hochzuheben, war es leicht, sie in die Küche hochzutragen und vorsichtig in das Bett zu legen.
»Sie wiegt so gut wie gar nichts«, sagte Lily. »Ich denke, ich sollte jetzt den Notarzt rufen, Violetta, wirklich.«
»Ich kümmere mich um sie«, beharrte Violetta.
»Das ist vielleicht nicht genug. Sie braucht fachmännische
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