Cantz schoen clever
dass es zu deutlichen Verzögerungen kommt. Unter »unvorhersehbaren Ereignissen« versteht die Bahn solche völlig überraschend über uns hereinbrechenden Naturphänomene wie Winter oder Sommer. Sobald das Thermometer über 20 °C oder unter 2 °C anzeigt, geht in der Regel gar nichts mehr. Dann ist maximal noch eine »Langsamfahrt« drin. So bezeichnete ein Zugführer kürzlich einen 45-minütigen Stillstand auf offener Strecke: »Liebe Fahrgäste, wie Sie sicherlich schon bemerkt haben, befinden wir uns auf einer Langsamfahrt.« Nun, ich hatte überhaupt nichts bemerkt, was auch nur im Entferntesten mit Fahrt zu tun hatte. Für mein Empfinden standen wir. Vielleicht standen wir langsam, aber wir standen. Ich frage mich, wie dieser Zugführer zu Hause seine Frau beglückt. Legt er sich bewegungslos neben sie und sagt nach einer Stunde: »Und, Schatz? Wie war ich?«
----
WIE GEIL IST DAS DENN?
Dass es auch ohne Verspätungen geht, beweisen unsere Freunde aus Japan: Dort sind Verspätungen der Bahn von mehr als 30 Minuten so selten, dass sie, wenn es dann doch einmal dazu kommt, Hauptthema in den Abendnachrichten sind. In Deutschland könnte man hingegen einen aktuellen Brennpunkt senden, wenn es ein Regionalzug im Feierabendverkehr ausnahmsweise einmal pünktlich schafft.
----
Die Trödelbahn als News-Sensation? Das stelle ich mir lustig vor: Tagesthemen -Moderator Tom Buhrow sagt mit todernster Miene: »Wir schalten jetzt live nach Hannover. Dortbahnt sich eine Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß an: Angeblich hat der ICE Ricarda Huch mittlerweile eine Verspätung von 25 Minuten. ARD -Korrespondent Thomas Christes ist vor Ort an Gleis 3. Thomas, wie ist die Lage?«
»Tja, Tom, hier auf Gleis 3 offenbart sich ein Bild des Schreckens. Völlig verzweifelte Fahrgäste wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll. Noch fünf Minuten, und die magische 30-Minuten-Verspätung wäre tragische, schreckliche Wirklichkeit. Viele Menschen haben bereits jetzt die Hoffnung aufgegeben und lassen alle Hemmungen fallen. Sie weinen und beten. Ein junger Mann wurde sogar dabei beobachtet, wie er sich außerhalb des markierten Bereichs eine Zigarette anzündete …«
Die Raucherbereiche auf den Bahnsteigen der Deutschen Bahn sind übrigens mein persönliches Highlight: Da werden Raucher von Nichtrauchern getrennt. Mit einer gelben Linie auf dem Boden. Eine Jahrhundert-Idee. Die pfiffigen Kerle, die diesen tollen Einfall hatten, würden vermutlich auch darauf kommen, im Schwimmbecken mit einer Leine einen Nichtpinkler-Bereich abzusperren.
Wenn man sich – wie ich – einmal mit den Unzulänglichkeiten der Bahn abgefunden hat, dann reist es sich jedoch recht komfortabel. Und wenn es einmal etwas länger dauert, steht dem Fahrgast zum geselligen Zeitvertreib immer noch das gemütliche Bord-Bistro zur Verfügung. Der Bistro-Wagen erfreut sich großer Beliebtheit, da er viele Menschen an ihre letzte Urlaubs-Party im »Oberbayern« erinnert: Es ist eng, heiß, riecht nach Alkohol, und nach vier bis fünf Weizen klingt sogar die Durchsage des Zugführers ein bisschen nach Jürgen Drews. Der Speisewagen erfüllt zwar nicht die Qualitätsstandards meines Stammlokals zu Hause, aber er profitiert von seiner Alternativlosigkeit. Man kann sich bei Tempo 250 zwischen Mannheim und Freiburg halt nicht aussuchen, wo man essen geht. Also murrt kaum ein Reisender darüber, wenn das Chili con Carne wieder mal kälter ist als das Bier.
----
GUT ZU WISSEN
Getränkeausschank in den Zügen der Deutschen Bahn pro Tag (nach eigenen Angaben):
Kaffee (Tassen) : 31 000
Bier (Gläser) : 12 874
Wein (Flaschen) : 644
Softdrinks (Flaschen) : 6054
Bis auf die Softdrinks entsprechen diese Werte ziemlich genau dem Tagesausschank der Kantine im Deutschen Bundestag.
----
Mit 12 874 Gläsern Bier im Kopf reist es sich per Bahn natürlich ganz entspannt. Es gibt aber auch Menschen, die sagen: »Bahnfahren ist mir zu stressig. Ich fliege lieber.« In meiner Kindheit war das noch undenkbar – zumindest innerhalb von Deutschland. Man reiste in aller Regel bodennah: per Auto, Bus oder Zug. Kurze Strecken wurden von den wenigsten Menschen in der Luft zurückgelegt. Die Ausnahmen bildeten wichtige Geschäftsleute, Politiker und Karlsson vom Dach. Auch innerhalb Europas blieb man gern auf dem Boden der Tatsachen: Für Ferienreisen nach England, Skandinavien, Italien oder Jugoslawien hätte niemand freiwillig einen Flieger bestiegen. Unsere türkischen
Weitere Kostenlose Bücher