Cantz schoen clever
Nasenbein dran glauben mussten. Außerdem versickerte eine 2-Liter-Flasche Orangensaft in den Polstern, er kriegte noch einen rechtsdrehenden Fruchtjoghurt und ein flüssig gewordenes Überraschungs-Ei in den Nacken gesteckt, und als Krönung hängte sich die selbstgebrannte CD mit den Kinderliedern auf und dudelte in permanenter Dauerschleife: »Schnappi, das – Schnappi, das – Schnappi, das …« Als er mir das Horrorszenario beschrieb, fragte ich ihn: »Wie konntest du bei dem Chaos überhaupt auf den Verkehr achten?« Da sagte er: »Was für ein Verkehr? Wir standen noch in der Garage!«
Das Reisen mit dem Auto hat also nicht nur Vorteile. Die Deutsche Bahn wäre eine Alternative, aber viele Menschen haben nur sechs Wochen Ferien, und je nach Verspätung ist so ein Urlaub schnell vorbei. Nach dem Motto: »Genießen Sie die schönsten Wochen des Jahres auf Gleis 8!« Und auch sonst muss die Bahn noch was an ihrem Service tun. »Tag der offenen Tür« ist ja schön und gut, aber doch nicht während der Fahrt! Eine Klimaanlage sollte bei heißen Temperaturen eigentlich dafür sorgen, dass es im Zug kälter ist als draußen – und nicht umgekehrt. Ich habe im letzten Sommer zu den Leidtragenden gehört, die im ICE mit dem inoffiziellen Spitznamen Finnen-Sauna bei 65 °C Innentemperatur gut die Hälfte ihres Körpergewichts verloren haben. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn der Zugführer reingekommen wäre und fröhlich gerufen hätte: »In einer halbenStunde gibt es Fichtennadel-Aufguss für alle!« Fairerweise muss man sagen, dass die Temperatur in den Waggons der Deutschen Bahn im Jahresdurchschnitt wieder stimmt – schließlich fallen im Winter regelmäßig alle Heizungen aus.
Ich reise trotz der zahlreichen technischen Probleme und Service-Schwächen der Bahn viel mit dem Zug. Und ich bin nicht der Einzige: Die Bahn begrüßt jeden Tag 7,5 Millionen Fahrgäste. Eine unvorstellbare Menge. Heute wäre ein Roman wie Mord im Orient Express überhaupt nicht mehr denkbar. Denn bei der Auswahl an potenziellen Tätern hätte selbst Meisterdetektiv Hercule Poirot nur einen Zufallstreffer landen können.
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GUT ZU WISSEN
7,5 Millionen Passagiere pro Tag – die Deutsche Bahn transportiert also in nur 48 Stunden so viele Menschen wie die größte deutsche Fluggesellschaft im ganzen Jahr. Allerdings nur innerhalb Deutschlands. International gesehen hat die Fluggesellschaft wiederum die Nase vorn. Das ist für jeden nachvollziehbar, der schon einmal versucht hat, mit dem Interregio von Hamm/Westfalen nach Honolulu/Hawaii zu fahren.
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Der Großteil dieser 7,5 Millionen Bahnfahrer sitzt übrigens immer genau in dem Waggon, in dem ich gerade reise. Das ist zumindest mein Eindruck. Denn die Züge der Deutschen Bahn sind immer voll. Egal, ob ich an einem Werktag morgens um fünf im Nahverkehrs-Pendelverkehr von Köln-Süd nach Köln-West möchte oder ob es sich um einen romantischen Wochenend-Trip mit dem TGV nach Paris handelt – ohne Reservierung geht gar nichts. Trotzdem versuchen es zahlreiche Reisende immer wieder ohne und schlagen sich dann um den einzigen noch freien Sitzplatz im ganzen Zug: die Behindertentoilette in Wagen 23.
Als jemand, der viel mit der Bahn unterwegs ist, habe ich selbstverständlich alle Tricks drauf, die eine Reise im deutschen Schienennetz so angenehm wie möglich machen: Ich habe grundsätzlich eine Platzkarte, reise stets ohne sperriges Gepäck und buche immer einen Zug, der fahrplanmäßig eigentlich vier Stunden vor meinem Termin ankommen soll. Dann bin ich nämlich meistens halbwegs pünktlich.
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DAS GEHT JA GAR NICHT!
Bei der Deutschen Bahn AG gilt ein Zug dann als pünktlich, wenn er nur bis zu 5 Minuten und 59 Sekunden vom Fahrplan abweicht. Hoffentlich gilt diese 6-Minuten-Toleranz nicht auch für das Bordbistro, denn sonst würde dort ein Frühstücksei schon nach einer Sekunde im heißen Wasser als perfekt gekocht gelten.
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Der Faktor Verspätung ist für die Deutsche Bahn das, was Lukas Podolski für den 1. FC Köln ist: Man kann sie sich auf Dauer eigentlich nicht leisten, aber sie gehören trotzdem wie selbstverständlich dazu. Ich ärgere mich natürlich auch, wenn ich in Köln noch auf meinen verspäteten Zug warte, obwohl mein Termin am Zielort schon seit einer guten Stunde vorbei ist. Aber was soll man machen? Das System Deutsche Bahn ist sehr komplex. Da reicht schon eine kleine Irritation,und eine Kette von unvorhersehbaren Ereignissen sorgt dafür,
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