Caras Schatten
geschmückt – Alexis’ Lieblingsfarbe – als Symbol für die Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch wohlbehalten zurückkehren möge. Die Lehrer hatten sich die Bänder sogar an ihre Kleidung gesteckt. Und an jedem Schwarzen Brett hingen Vermisstenposter. Cara hatte das Gefühl, von Alexis’ Augen verfolgt zu werden, wenn sie die Schule durchquerte. Selbst in der Cafeteria herrschte gedämpfte Stimmung. Die meisten aßen und gingen gleich wieder. Die ganze Schule schien so lange den Atem anzuhalten, bis Alexis endlich gefunden wurde.
Cara fiel auf, dass sie ihren Spind geschlossen hatte, ohne die Sachen herauszunehmen, die sie eigentlich brauchte. Sie öffnete ihn erneut. So was passierte ihr in letzter Zeit ständig, als würde sie schlafwandelnd durch die Welt gehen.
Sie stieß die schwere Eingangstür der Schule auf und blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Mund war mit einem Mal völlig ausgetrocknet. Vor ihr erstreckte sich eine schnurgerade Straße, ein bis zwei Kilometer lang, die von unzähligen Telefonmasten gesäumt wurde. An jedem dieser Masten hing ein Plakat von Alexis. Um nach Hause zu gelangen, würde Cara sich durch einen Tunnel von flatternden Zetteln hindurchkämpfen müssen, die nach ihr griffen und ihr Gesicht streiften wie lebende Tentakel.
Cara blinzelte und schüttelte den Kopf. Die albtraumhafte Vision verschwand, und vor ihr lagen wieder die vertrauten, baumbesetzten Straßen der Umgebung. Nichts als Häuser und Rasenflächen, wie gewohnt. Gott, sie brauchte dringend mehr Schlaf. Sie verfiel schon mitten auf der Eingangstreppe ihrer Schule in Tagträumereien.
Bis zu ihrem Haus waren es nur drei Blocks, vorbei an gepflegten, schläfrigen Häusern mit halb heruntergelassenen Rollos. Aus einem der hinteren Gärten drang Kindergeschrei, doch ansonsten waren alle Türen fest verschlossen. Die Bürgersteige waren wie ausgestorben. Cara bog um eine Ecke. Am Ende der Straße ragte ihr eigenes Haus auf wie eine Festung, in der eine verrückte Prinzessin lebte. Zoe befand sich da drin.
Cara war fast zu Hause angekommen, als sie es bemerkte. Ein Dutzend Poster von Alexis waren um ihr Haus herum an jeden Baum getackert. Mom schien sie dort aufgehängt zu haben. Jetzt musste Cara tatsächlich zwischen den Postern hindurchgehen, um zu ihrem Haus zu gelangen.
Sie spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug. An ihrem Haaransatz bildeten sich Schweißperlen. Sie hatte das seltsame Bedürfnis, Alexis’ Foto höflich anzulächeln, so als würde sie auf einer Party jemandem begegnen, mit dem sie nicht reden wollte. Ich war’s nicht, Alexis. Es ist nicht meine Schuld. Oder doch? Sie befahl ihren Füßen weiterzugehen und sie an dem letzten Poster vorbei die Eingangsstufen hinaufzutragen. Erleichtert ließ sie sich gegen das Verandageländer sinken.
Cara atmete tief durch, als sie die Haustür öffnete und hinter sich schloss. Die Stille des Hauses umfing sie wie eine Umarmung. Sie ließ ihre Schultasche schwer auf den Dielenboden fallen und ging in die Küche, während sie versuchte, möglichst nicht an Zoe zu denken. Das tat sie in letzter Zeit häufig – versuchen, nicht an Zoe zu denken. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte.
Cara nahm eine Dose Cola Light aus dem Kühlschrank und öffnete sie, um einen ausgiebigen Schluck zu trinken. Dann schob sie sich eine Handvoll Cracker in den Mund und schaltete den Fernseher über der Mikrowelle an. Oprah im Interview mit Kofi Annan; ein fescher Fernsehkoch, der den Zuschauern erklärte, wie man aus Wackelpudding eine Burg baut; eine schluchzende Mutter, die direkt in die Kamera sprach. Caras Finger erstarrten an der Fernbedienung. Sie zwang sich, nicht zu der weinenden Frau zurückzuschalten. Doch ihre Finger wollten ihr nicht gehorchen. Sie schaltete zurück.
»Und bitte, bitte, wenn irgendjemand etwas weiß, ganz egal was, dann soll er sich an diese Nummer wenden«, brachte Mrs Henning hervor. »Meine Tochter könnte überall sein, verletzt und allein …« Ihre Stimme versagte, erstickt von Tränen. Cara stand wie erstarrt vor dem Fernseher, die Fernbedienung in ihren schlaffen Fingern. Alexis’ Mutter sah furchtbar aus – ihre Haare waren zerzaust, ihre Augen rot und geschwollen. Mr Henning stand an ihrer Seite, tätschelte ihre Schulter und starrte zu Boden. Seit Sydneys Beerdigung vor einer Woche schien er um zehn Jahre gealtert. Die stille Eleganz seines silbrigen Haars und der gebräunten Haut war mit einem Mal verschwunden. Er
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