Caras Schatten
wirkte wie ein gebrochener alter Mann.
Mit zitternden Händen legte Cara die Fernbedienung behutsam zurück auf die Arbeitsplatte. Der Appetit war ihr inzwischen vergangen. Sie ließ die Cracker stehen und stieg die Treppe hinauf. Sie wollte nicht da hochgehen. Sie wollte nicht zu Zoe. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie musste mit ihr reden.
Vorsichtig öffnete Cara die Tür zu ihrem Zimmer. Rötlich flackerndes Licht strömte ihr entgegen, und einen verwirrenden Moment lang dachte Cara, ihr Zimmer stünde in Flammen. Sie stieß die Tür vollständig auf und bemerkte, dass Zoe überall Kerzen aufgestellt hatte. Die Vorhänge waren zugezogen, das Licht ausgeschaltet.
Ein widerlicher Gestank schlug ihr entgegen, als sie den Raum betrat. Es roch nach schlechtem Atem, vergammeltem Essen und ungewaschener Wäsche. Jeder Quadratzentimeter des Fußbodens war mit Klamotten bedeckt. Die Tür des Kleiderschranks stand in einem unnatürlichen Winkel offen – sie hing nur noch an einem Scharnier. Die leeren Kleiderbügel hingen kreuz und quer an der Stange. Die Kommode und der Schreibtisch waren übersät mit Tellern voll angetrockneter Speisereste. Den Nachttisch bedeckten Gläser, die trüb waren von Fingerabdrücken. Wann hatte das Ganze nur derart überhand genommen? Oder war es von Anfang an so gewesen? Cara konnte sich nicht erinnern. Sie fühlte sich benommen, orientierungslos.
Zoe kauerte am Boden vor einem Blatt Papier. Als Cara eintrat, blickte sie auf, ihre Augen fiebrig leuchtend. »Hi.« Sie lächelte. »Ich hab schon auf dich gewartet.« Sie trug Moms schwarzen Satinmorgenmantel.
Cara starrte den Morgenmantel an. »Wo hast du den her?«
Zoe zuckte mit den Schultern. »Aus dem Kleiderschrank deiner Mutter.«
»Zoe, du kannst hier nicht einfach so herumschnüffeln, wenn niemand zu Hause ist«, begann Cara. Dann bemerkte sie, was da vor Zoe auf dem Boden lag. Es war eines der Vermisstenposter, und Zoe malte es mit Textmarkern aus. Cara sah entgeistert zu, wie sie Alexis’ Augen sorgfältig mit Blau nachzeichnete und dabei eine leise Melodie summte.
Zoe blickte erneut auf und bemerkte, dass Cara sie anstarrte. Sie lächelte liebenswürdig. »Ich fand schon immer, dass ihr blaue Augen besser stehen würden.«
Cara spürte, wie ihr die Galle hochstieg. Sie schluckte heftig, angewidert von dem Geschmack. »Was zum Teufel machst du da?« Sie beugte sich zu Zoe herunter und riss ihr das Blatt aus den Händen. »Hast du denn überhaupt keinen Respekt?«
Zoe sagte nichts. Sie sah Cara nur an. Ihre Augen folgten jeder kleinsten Bewegung. Cara betrachtete das Bild in ihren Händen. Es war das erste Mal, dass sie es sich aus der Nähe ansah. Alexis trug ein kariertes Hemd und stand irgendwo im Freien, ihr Haar wurde vom Wind zurückgeweht. Das Foto zeigte sie mit einem angedeuteten Lächeln. Ihre Augen wirkten groß und dunkel. Gehetzt. Cara, was hast du nur getan? , schienen sie zu fragen.
Cara schüttelte so vehement den Kopf, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Nichts. Sie hatte überhaupt nichts getan! Aber du weißt, wer es getan hat, Cara.
»Nein!«, rief Cara. Eine glühende Hitze durchströmte ihren Körper, und ohne darüber nachzudenken, riss sie den Zettel in Tausend Stücke und verstreute sie auf dem Bett. Zoe sah ihr aus der Hocke heraus zu, den Kopf auf die Seite gelegt – wachsam wie ein kleines Vögelchen.
Cara blickte stumm auf die Papierschnipsel herab, während sich ihre Brust hob und senkte. Alexis’ Gesicht war reduziert zu einem Haufen bedeutungsloser schwarzer Flecken auf wirrem weißem Papier. Doch auf einem der Schnipsel funkelte ihr Auge. Cara starrte es an, und Alexis’ Auge starrte zurück. Es ist deine Schuld, Cara , sagte das Auge.
»Hör auf!«, schrie Cara. Sie schnappte sich zwei Hände voll Papierschnipsel und rannte damit ins Badezimmer, um sie ins Waschbecken zu werfen. Halb schluchzend atmete sie ein und aus, während ihre zitternden Hände in der Badezimmerschublade kramten. Endlich fand sie, wonach sie suchte: ein altes Feuerzeug. Sie ließ ihren Daumen über das starre Rädchen gleiten – einmal, zweimal. Nichts. »Komm schon!«, schluchzte sie. Ein weiteres Mal – Feuer. Cara ließ ihre Hand vorsichtig ins Waschbecken sinken und hielt die Flamme ans Papier. Dann umklammerte sie mit beiden Händen den Beckenrand, während die Hitze des Feuers ihr Gesicht erwärmte und das wilde Hämmern ihres Herzens besänftigte. Die Flammen erstarben. Alles, was von Alexis
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