Carina - sTdH 3
wieder
ganz wie früher aussah, ließ eine plötzliche Begeisterung für die Londoner
Kaufhäuser und Geschäfte erkennen, die ganz ungewöhnlich war, und bestand darauf,
daß sie bestimmt noch Bänder und Spitzen für ihre Aussteuer brauchte. Carina
fand das neue ruhige Wesen ihres Vaters sehr viel angenehmer, wenn sie ihn auch
immer noch nicht mochte. Aber der Squire war wie eh und je der vollendete
Gentleman, und Carina liebte es, mit ihm zusammen zu sein.
Einmal sah
sie, als sie die Bond Street entlangschlenderten, Lord Harry auf sich zukommen,
und sie machte ihren Vater daraufaufmerksam.
Er und der Squire verhielten sich äußerst seltsam. Sie ergriffen sie am Arm und
zerrten sie schnell in das nächste Geschäft.
Auch die
Unterhaltungen waren merkwürdig. Minerva sprach von tragischen Ehen, in denen
die Partner gar nicht zueinander paßten. Der Vikar erzählte ihr von Fällen, wo
die Hochzeit im letzten Moment abgesagt und die betroffenen Paare ihr Leben
lang dankbar dafür waren.
Offenbar
hatten alle erraten, daß sie Lord Harry in Wirklichkeit nicht heiraten wollte,
und ermutigten sie mit allzu offensichtlichem Takt, die Verlobung aufzulösen.
Aber wenn
sie Lord Harry sagte, daß sie ihn nicht heiraten wolle, dann wäre er
wahrscheinlich sehr zornig und würde womöglich seine Drohung wahrmachen und sie
wegen Vertragsbruchs verklagen.
Aber nein,
so schnell schlossen sich die Gefängnistore doch nicht hinter ihr. Sicherlich
würde sich Lord Harry nicht vor Gericht lächerlich machen, indem er sie
strafrechtlich verfolgte!
Es war eher
so, daß Carina sich jetzt, wo sie von ihrem Verlobten ferngehalten wurde,
paradoxerweise ein kleines bißchen nach ihm sehnte, wenn auch nur ganz kurze
Zeit.
Manchmal
war seine Gesellschaft doch wirklich angenehm gewesen. Er war nicht
intelligent, aber er hatte ausgezeichnete Manieren. Die Damen schienen von
seiner Schönheit fasziniert zu sein, und Carina war Weibchen genug, um ihre
Eifersucht zu genießen. Und vor kurzem war sie einem sehr intelligenten
Abgeordneten des Oberhauses vorgestellt worden, der berühmt für seinen Verstand
war. Er hatte Carina ganz schrecklich bevormundet, etwas, was Lord Harry nicht
im Traum täte.
Wenn sie
mit ihrem großen, gutaussehenden Verlobten auftrat, dann war es ihr – ja, sie
konnte es nicht leugnen – eine Genugtuung, daß man sie neiderfüllt anschaute.
Jetzt, wo die Familie Armitage sie wieder unter die Fittiche nahm, fühlte sie
sich in ihre Kindertage zurückversetzt.
Minerva
hatte ihr sogar angeboten, ihr vorzulesen, und gab ihr immerzu gräßliche
Gläschen mit Stärkungsmitteln, weil sie »auf gepäppelt« werden müsse.
Carina wäre
gerne wenigstens einen Abend in der Woche zu Hause geblieben, um mit Baby
Julian zu spielen, aber man sagte ihr, daß junge Damen wie sie sich amüsieren
und nicht wie alte verheiratete Damen zu Hause herumsitzen sollten.
Und je
interessanter Lord Harry durch seine Abwesenheit wurde, desto öfter dachte
Carina über die seltsame und aufregende Reaktion ihres Körpers auf seine Küsse
nach. Gehörte zur Liebe auch Lust?
An diesem
Morgen war sie mit dem Verlangen erwacht, mit ihren Gedanken allein zu sein,
und deshalb hatte sie sich aus dem Haus geschlichen und wollte einen weiten
Spaziergang bis zum Green Park machen. Sie hatte weder ihre Zofe noch einen
Diener dabei, aber es war früh am Morgen, und alle die stürmischen jungen
Männer, die eine Frau belästigen könnten, lagen garantiert noch mindestens fünf
Stunden im Bett.
Ein
kleiner, schmächtiger Mann mit einer riesigen Nase starrte sie so intensiv an,
daß er fast sein Gesicht unter ihren Hut steckte. Carina schrak mit einem
kleinen Aufschrei zurück, und der Mann eilte, eine Entschuldigung murmelnd,
davon.
Es war neun
Uhr. Vor zehn Uhr gab es im West End so gut wie kein Leben. Wie still und weiß
und verlassen die Straßen dalagen!
Da war
dieser seltsame kleine Mann wieder!
Carina war
sich sicher, daß sie ihn über die Straße hatte eilen sehen. Sie blieb
bewegungslos stehen. Die Sache hatte etwas Gespenstisches an sich.
Da war er!
Aber es war nur die schwankende Gestalt des Wächters. Er tippte an seinen Hut,
als sie vorbeiging. Carina war drauf und dran, wieder nach Hause zu gehen. Aber
da tat sich der Piccadilly schon vor ihr auf. Und nach Hause gehen bedeutete,
daß Minerva sie fand und sofort Pläne für den Tag machte.
Sie hielt
den Kopf gesenkt und eilte auf den Piccadilly zu. Da gab es Menschen.
Ladenbesitzer, die
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