Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Glas Wasser wolle oder lieber noch eine Tasse Tee.
»Ist es hier drinnen nicht sehr warm?«, stöhnte er und versuchte, tief Luft zu holen, aber die Lungen wollten ihm nicht gehorchen. Und während sie in der Küche war, um Wasser zu holen, griff er sich ans Herz und wusste, dass er nun sterben würde.
Nete betrachtete einen Moment die Gestalt in dem hässlichen Anzug, die schräg auf dem Stuhl hing. Tage war im Lauf der Jahre sehr viel kräftiger geworden, als sie es sich vorgestellt hatte. Er war so schwer, dass sein Gewicht sie beinahe umgeworfen hätte, als sie seinen Oberkörper zu sich heranzog, um ihn unter den Armen packen zu können.
Oh Gott, das dauert zu lange, das schaffe ich nicht, dachte sie nach einem Blick auf die Wanduhr.
Sie ließ den Oberkörper los, sodass er vornüber auf den Fußboden fiel. Als Nase und Stirn aufschlugen, knirschte es. Wenn jetzt nur nicht der Nachbar von unten angerannt kam.
Dann kniete sie sich hin und schob, rollte und zerrte Tages Körper unter Aufbietung aller Kräfte auf den Buchara-Teppich, den sie mitsamt der Leiche bis zur Schwelle des langen Flurs hievte. Resigniert blickte sie auf den Kokosläufer, der dort lag. Verdammt, warum hatte sie daran nicht gedacht! Wie sollte sie einen Teppich über einen Teppich ziehen?
Sie zerrte mit aller Macht an dem Körper und schaffte es, ihn um die Ecke auf den Korridor zu bugsieren, wo sie erst einmal nach Luft ringen musste.
Nete biss sich auf die Lippe. Schon Rita hatte ihr unerwartet viel Mühe gemacht. Zwar war sie um einiges leichter gewesen, aber dafür irgendwie so schlenkrig. Arme und Beine hatten immerzu in alle Richtungen geschlackert und sie hatte andauernd stehen bleiben und die Arme zurück auf Ritas Bauch legen müssen, bis sie die Hände schließlich zusammengebunden hatte, dann war es gegangen.
Angeekelt betrachtete sie Tage. Nichts an diesem verbrauchten, verschwitzten Gesicht und den wabbeligen Armen erinnerte noch an den Jungen, mit dem sie herumgetollt war.
Dann brachte sie ihn mit einem Kraftakt zum Sitzen und kippte ihn wie eine Schlenkerpuppe vornüber zwischen seine Beine. Das bugsierte ihn einen halben Meter weiter.
Sie blickte den Flur entlang. In diesem Tempo würde sie mindestens zehn Minuten bis zum Esszimmer brauchen. Aber was nützte es? Sie konnte ja jetzt schlecht aufhören.
Also Tages Kopf auf den Boden legen, ihn über seine eigene Schulter rollen. Das Ganze wiederholen - ihn zum Sitzen aufrichten, vornüberkippen und dann über die eigene Schulter rollen. Sie musste nur wirklich fest drücken, damit die Bewegung einigermaßen gleitend war.
Aber das war gar nicht so leicht und Netes schlimmes Bein, die Hüfte und der Rücken schmerzten entsetzlich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie Tage in das abgedichtete Esszimmer mit dem großen Tisch und den sieben Stühlen bugsiert. Aber ihn auch noch auf den Stuhl neben Ritas Leiche zu hieven, das schaffte sie nicht mehr. Das musste bis zum Abend warten. Rita saß am Stuhlrücken festgebunden vor ihrer Tischkarte, der Kopf hing vornüber.
Tage lag mit weit geöffneten Augen und gekrümmten Fingern daneben.
Sie sah auf ihn hinab und stutzte. Die Brusttasche seines entsetzlich glänzenden Anzugs war eingerissen. Hatte da etwa die ganze Zeit ein Stück Stoff gefehlt? Das musste sie wissen.
Es war jetzt 13.40 Uhr, in fünf Minuten kam Viggo.
Sorgfältig verschloss sie die Tür hinter sich und inspizierte den Flur, konnte aber keinen Stofffetzen entdecken. Vielleicht hatte er die ganze Zeit gefehlt, und es war ihr nur nicht aufgefallen. Schließlich hatte sie immerzu auf Tages Augen gestarrt, nachdem er sich hingesetzt hatte.
Dann atmete sie tief durch und ging ins Badezimmer, um sich kurz frisch zu machen. Zufrieden betrachtete sie ihr verschwitztes Gesicht. Eigentlich bekam sie das alles doch ganz gut hin. Der Bilsenkrautextrakt wirkte, wie er sollte, und den Zeitplan hielt sie auch ein. Natürlich war es denkbar, dass sich heute Abend, wenn alles überstanden war, eine Reaktion einstellte. Dass sie diese Menschen plötzlich mit anderen Augen betrachtete als in diesem Moment. Vielleicht würde sie daran denken, dass auch zu ihnen andere Menschen gehörten, die sie einmal geliebt und die Träume mit ihnen verbunden hatten.
Nur im Moment durfte sie nicht darüber nachgrübeln, auf keinen Fall. Das würde sie völlig aus dem Konzept bringen.
Sie richtete ihr Haar und dachte dabei an die, die noch kommen würden. Ob Viggo womöglich
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