Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
gefragt!« Er wandte sich Nete Hermansen zu. »Ein Fischer aus Lundeborg verschwand ebenfalls. Er hieß Viggo Mogensen. Sind Sie ihm zufälligerweise begegnet? Per Schiff ist es ja nicht weit von Lundeborg nach Sprogø.«
Sie lächelte. »Nein. Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Du siehst so bedenklich aus, Carl. Was geht in deinem Kopf vor?«
»Nachdenklich, Assad. Nicht bedenklich. Na ja, es gibt auch einiges zum Nachdenken, findest du nicht?«
»Doch, schon. Ich kriege das nur nicht zusammen, Carl. Abgesehen von diesem Viggo Mogensen sind das ja eigentlich zwei Fälle in einem; Rita, Gitte, Curt Wad, Nørvig und Nete auf der einen Seite. Dieser Cousin Tage fällt da raus, denn soweit wir wissen, hatte der nichts mit Sprogø zu tun. Und auf der anderen Seite eben Tage und Nete. Also ist sie die Einzige, die mit allen zu tun hatte.«
»Ja, Assad, vielleicht. Aber sicher wissen wir das nicht. Vielleicht hatte ja auch Curt Wad mit allen zu tun? Dem müssen wir jetzt auf den Grund gehen. Der Gedanke an einen kollektiven Selbstmord oder ein Zusammentreffen unerklärlicher, simultaner Unglücksfälle steht jedenfalls nicht länger auf meiner Agenda.«
»Sag das noch mal, Carl: ›Agenda‹ und ›simultan‹?«
»Vergiss es, Assad. Darauf kommen wir zu einem späteren Zeitpunkt zurück.«
29
Sprogø 1955
A m Kai standen Frauen und winkten, als wenn mit Nete und Rita lang erwartete Freundinnen auf die Insel kämen. Wie Kinder standen sie in Grüppchen zusammen, lachend, rufend, sauber geschrubbt.
Nete verstand nicht, was das sollte. Was zum Teufel gab es da zu lachen? Das Schiff aus Nyborg war doch kein Rettungsfloß, keine Arche Noah. Es war nicht gekommen, um sie einzusammeln und in Sicherheit zu bringen. Im Gegenteil, hatte sie gehört. Dieses Schiff war ein Fluch.
Nete sah über die Reling hinüber zu den winkenden Armen, dem Leuchtturm hoch oben auf dem Hügel und schließlich zu der Häusergruppe mit den roten Dächern, den gelben Mauern und den unzähligen kleinen Fenstern, die wie Augen über die Landschaft und die armen Wesen hier wachten. Mittendrin eine Flügeltür mit Sprossenfenstern, die sich im selben Moment öffnete. Heraus trat eine kleine, aufrechte Gestalt, die sich auf den Treppenabsatz stellte und nach dem Geländer griff. Der Admiral, der zusah, wie seine Flotte in den sicheren Hafen einlief. Richtiger wäre wohl: die Königin von Sprogø, die ein strenges Auge darauf hatte, dass alles seine Ordnung behielt. Die über alles entschied und bestimmte.
»Habt ihr Zigaretten?«, war das Erste, was ihnen die Mädchen entgegen riefen.
Eine von ihnen kletterte sogar auf den Anleger und stellte sich mit ausgestrecktem Arm auf die Streben, nur um als Erste etwas zu ergattern.
Wie eine Schar schnatternder Gänse umringten die Mädchen die Neuankömmlinge. Namen flogen durch die Luft, Hände suchten Kontakt.
Nete sah besorgt hinüber zu Rita. Die allerdings schien sich pudelwohl zu fühlen. Doch ja, Rita hatte Zigaretten dabei, und damit gelangte man im Nu an die Spitze der Hierarchie. Sie hielt die Päckchen in die Höhe und zeigte sie ihnen, dann steckte sie sie schnell wieder in die Tasche. Kein Wunder, dass sich alle Aufmerksamkeit auf sie richtete.
Nete wurde ein Zimmer unterm Dach zugeteilt. Ein einfaches Stallfenster an der Decke war das Einzige, was an die Freiheit und Weite erinnerte, die sie einmal gekannt hatte. Der Wind drang durch die undichten Stellen in der Fenstereinfassung, es war eisig kalt. Zwei Betten und der kleine Koffer ihrer Zimmergenossin. Wären da nicht ein Kruzifix gewesen und zwei kleine Fotos von Filmstars, die sie nicht kannte, hätte das Zimmer wie eine Gefängniszelle ausgesehen. Die Kammer lag Wand an Wand mit anderen Zimmern, direkt vor der Tür befanden sich die Terrazzobecken, wo sie sich wuschen.
Von klein auf hatte Nete mitgeholfen, die Ställe auszumisten, aber niemand hätte je von ihr sagen können, sie sei nicht sauber, sie rieche nach Stall. Denn schon seit sie denken konnte, hatte sie Arme und Hände mit einer festen Bürste geschrubbt und für den Rest einen Schwamm benutzt.
Du bist echt das sauberste Mädchen der Welt, hatte Tage immer gesagt.
Aber hier war jeden Morgen ein derartiges Durcheinander an den Becken, dass es schwer war, sich ordentlich zu waschen. Alle Mädchen standen gleichzeitig auf dem Gang, wuschen sich mit nacktem Oberkörper und hatten insgesamt nur fünf Minuten, um sich fertig zu machen. Wie schon in Brejning kam die
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