Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
der enge Kontakt zu den anderen Mädchen. Das andauernde Hickhack. Gerade noch waren sie die besten Freundinnen, und schon im nächsten Moment erbitterte Feindinnen.
Nete war sich durchaus bewusst, dass es viele Dinge im Leben gab, von denen sie keine Ahnung hatte. Orte, Geschichte, Allgemeines. Wenn man es so schwer hatte mit dem Lesen und Schreiben wie sie, musste man sich an das halten, was man durchs Zuhören aufschnappte. Doch da Nete in ihrem Leben noch nicht mit vielen Menschen zusammengekommen war, die in dieser Hinsicht eine Bereicherung für sie gewesen wären, war sie, kurz gesagt, immer gut im Abschalten gewesen. Das Problem war: In der Nähstube ging das nicht. Das nichtssagende Geschwätz der Mädchen machte sie fast verrückt. Zehn Stunden lang, Tag für Tag! Außerdem konnte der Ton von einem Augenblick zum anderen Umschlagen, und ehe man sichs versah, flogen Worte wie Giftpfeile umher. Aber die Streithennen waren auch schnell wieder versöhnt und begannen, dieselben Geschichten von vorn zu erzählen. Alle lachten, wenn die Stimmung plötzlich ins Aggressive kippte, nur Nete nicht. Sie konnte dieses ewige Hin und Her einfach nicht ertragen.
Nein, viel Gesprächsstoff gab es nicht, und deshalb ging es immer wieder um den Zigarettenmangel, um die flotten Männer auf den Schiffen und die ekligen Geschichten von dem Arzt mit dem Messer drüben in Korsør.
»Ich werde auf dieser Scheißinsel noch wahnsinnig!«, flüsterte sie eines Tages kurz vor der Mittagspause Rita ins Ohr. Woraufhin Rita sie von oben bis unten musterte, wie eine Ware im Regal des Kaufmanns, und schließlich sagte: »Ich sorge dafür, dass wir ein gemeinsames Zimmer bekommen. Da werde ich dich schon aufmuntern.«
Am selben Abend erlitt Netes Zimmergenossin im Waschhaus schwerste Verbrennungen und musste nach Korsør ins Krankenhaus überführt werden. Die anderen sagten später, dass sie dem Waschkessel mit der Kochwäsche zu nahe gekommen und selbst schuld gewesen sei. Dass sie sich dumm und ungeschickt verhalten und immer nur an ihr Puppenkind gedacht habe.
Nete hörte die entsetzlichen Schreie bis in die Nähstube.
Als Rita zu Nete ins Zimmer zog, kehrte für kurze Zeit wieder das Lachen in ihr Leben ein. Rita schnappte laufend lustige Geschichten auf und machte sie beim Weitererzählen noch lustiger. Aber Ritas Gesellschaft hatte ihren Preis, und den lernte Nete schon gleich in der ersten Nacht kennen.
Sie protestierte, aber Rita war stark und ließ sich nicht beirren. Nachdem Rita Nete dazu gebracht hatte, lustvoll zu stöhnen, fand diese sich mit der Situation ab.
»Und halt ja die Klappe, Nete. Wenn das hier rauskommt, bist du erledigt, kapiert?«, flüsterte Rita.
Nete hatte kapiert.
Rita war nicht nur körperlich stark, sondern auch seelisch viel gefestigter als Nete. Zwar hasste auch Rita das Inseldasein, aber sie blieb davon überzeugt, dass in naher Zukunft ein besseres Leben auf sie wartete. Rita war sich ganz sicher, eines Tages von Sprogø wegzukommen, und in der Zwischenzeit verstand sie es besser als irgendwer sonst, sich das Leben angenehm zu gestalten.
Sie hatte die besten Jobs, bekam bei Tisch als Erste die Schüsseln, rauchte hinter dem Waschraum, nahm sich nachts Nete und war in der übrigen Zeit das Oberhaupt der Mädchen.
Dann und wann fragte Nete sie: »Woher hast du eigentlich die Zigaretten?« Aber die Antwort erhielt sie erst in jener Nacht im Frühjahr, als sie unbemerkt beobachtete, wie Rita aufstand, sich leise ankleidete und aus dem Zimmer schlich.
Gleich schrillen im ganzen Haus die Alarmglocken, dachte Nete, denn in allen Türen war ein kleiner Stift angebracht, der beim Öffnen hochschnellte, und dann läutete die Klingel, das Personal kam angerannt, es hagelte Schläge und die Übeltäterin wurde in den »Besinnungsraum« gesteckt, wie die Strafzelle genannt wurde. Doch der Alarm ging nicht los.
Nachdem Rita den Gang schon ein Stück hinuntergegangen war, stand Nete auf. Sie sah nach, wie Rita das mit der Tür angestellt hatte, und entdeckte ein sinnreich gebogenes Stückchen Metall, das sich beim Öffnen der Tür in das Loch des Stifts drehen ließ. So einfach war die Alarmglocke zu überlisten.
Nete brauchte keine zehn Sekunden, um sich das Kleid überzustreifen und Rita mit klopfendem Herzen hinterherzuschleichen. Schon eine einzige knarzende Diele oder quietschende Türangel hätten gereicht, und der Teufel wäre los gewesen, aber Rita hatte vorgesorgt.
Auch die Haustür, die an
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