Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
die Brust fiel, wurde es in Nete ganz still. Ihr war, als hätte der Tod selbst dagestanden, sie angeschaut und zu sich ans Höllenfeuer gewinkt. Und nun war er wieder verschwunden.
Nie zuvor hatte sie ihn so nahe gefühlt, nicht einmal, als ihre Mutter starb. Nicht einmal, als sie im Krankenhaus lag und man ihr mitteilte, ihr Mann sei bei dem Autounfall ums Leben gekommen.
Sie kniete sich vor den Sessel, in dem Philip Nørvig mit offenen, verweinten Augen saß und nicht mehr atmete.
Nach einer Weile streckte sie ihre zitternden Hände aus und tastete nach seinen verkrampften Fingern. Sie suchte nach Worten, fand aber keine. Vielleicht wollte sie nur Entschuldigung sagen, aber irgendwie gelang es ihr nicht.
Er hatte eine Tochter! Sie spürte, wie ihr Zwerchfell vibrierte und das Zittern schließlich den ganzen Körper erfasste.
Er hatte eine Tochter. Diese leblosen Hände hatten eine Wange, die sie nun nie mehr streicheln würden.
»Hör auf, Nete!«, rief sie auf einmal, denn sie merkte, wohin das führte. »Du mieses Dreckstück!« Was kam er hier auch auf die reuige Tour an? Glaubte er, ihr Leben würde dadurch leichter? Wollte er ihr jetzt auch noch ihre Rache stehlen? Erst die Freiheit, dann die Mutterschaft und jetzt ihren Triumph?
»Komm schon«, murmelte sie und steckte die Arme unter seine Achseln. Im selben Moment bemerkte sie den Gestank. Kein Zweifel, in letzter Sekunde hatte sich sein Darm entleert. Und kein Zweifel, dass für sie der Zeitdruck dadurch noch größer wurde.
Sie sah auf die Uhr. Es war sechzehn Uhr, in einer Viertelstunde war Curt Wad an der Reihe. Und auch wenn nach ihm noch Gitte kam, so war er doch die Krönung des Werks.
Sie zog Nørvig vom Sessel und musste feststellen, dass der Sitz verfärbt war und stank.
Nørvig hatte buchstäblich zum letzten Mal einen Abdruck in ihrem Leben hinterlassen.
Nachdem sie ein Badetuch um seinen Unterleib gewickelt und ihn in den präparierten Raum geschleppt hatte, kniete sie sich vor den Sessel und schrubbte fieberhaft die Sitzfläche. Sämtliche Fenster in Wohnzimmer und Küche standen sperrangelweit offen. Aber weder der Fleck noch der Gestank wollten verschwinden, und in diesem Moment, als die Uhr 16.14 anzeigte, schien ihr jedes Detail in diesem Raum unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass in dieser Wohnung etwas nicht stimmte.
Um 16.16 Uhr hatte sie den Sessel in eine Ecke des abgedichteten Raums geschoben. Sein ursprünglicher Platz war nun leer. Kurz überlegte sie, dort stattdessen einen Esszimmerstuhl hinzustellen, entschied sich aber dagegen. Und andere Sessel hatte sie nicht.
Dann muss Curt Wad eben auf dem Sofa neben der Anrichte sitzen, überlegte sie. Und ich muss mich so hinstellen, dass ich beim Einschenken des Tees die Karaffe mit dem Bilsenkraut verdecke. Anders geht es nicht.
Die Zeit verging und Nete trat alle zwanzig Sekunden ans Fenster, aber Curt Wad kam nicht.
Als Nete schon mehr als anderthalb Jahre interniert gewesen war, stand plötzlich ein Mann auf dem Hof und fotografierte hinunter zum Wasser. Eine Gruppe Mädchen hielt sich in seiner Nähe auf. Sie tuschelten und musterten ihn von oben bis unten, als wäre er Freiwild. Der Mann war groß und kräftig gebaut und die gelegentlichen Berührungen, wenn die Mädchen ihm zu nahe kamen, schienen ihn nicht zu beirren.
Ein braver Mann, hätte ihr Vater gesagt. Rote Backen wie ein Landwirt und glänzendes Haar.
Vier Frauen vom Personal passten auf ihn auf, und als denen das Gedrängel zu viel wurde, schoben sie die Mädchen beiseite und jagten sie wieder an die Arbeit. Nete zog sich hinter den Baum in der Hofmitte zurück und wartete ab.
Der Mann sah sich um, nahm einen Schreibblock zur Hand und machte sich Notizen.
»Könnte ich wohl mit einem der Mädchen sprechen?«, hörte Nete ihn fragen. Die Angestellten lachten und sagten, wenn ihm seine Unschuld lieb sei, dann sollte er den Mädchen lieber nicht zu nahe kommen.
»Keine Sorge, ich werde mich schon beherrschen«, sagte Nete da aus dem Hintergrund und trat mit diesem Lächeln auf die Gruppe zu, das ihr Vater immer als »strahlend« bezeichnet hatte.
Bereits da las sie in den Augen der Angestellten, wie hart die spätere Strafe ausfallen würde.
»Geh an deine Arbeit!«, sagte das Wiesel, wie die Assistentin der Vorsteherin und kleinste der vier Angestellten genannt wurde. Sie bemühte sich um einen freundlichen Ton, aber Nete wusste es besser. Sie war eine absolut verbitterte Krähe. Eine, der
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