Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
es gab Curt einen Ruck.
Er blickte auf seine gekrümmte Hand, die ihre Wange streichelte. Ihm war sonderbar zumute. Die Hand und Beates Haut verschmolzen fast, so groß war der Unterschied in ihrer beider Alterungsprozess also doch nicht. Aber nur noch wenige Stunden, dann würde sie tot sein und er nicht, und diesen Unterschied musste er vollends akzeptieren, wenn er leben wollte. In diesem Moment wollte er das nicht. Aber er musste. Es gab Aufgaben, die erledigt werden mussten.
Danach würde er zum Steinmetz fahren und einen Grabstein aussuchen, in den beide Namen auf einmal eingraviert werden konnten.
Er hörte ein durchdringendes Piepsen und sah zum Nachttisch. Das kam von seinem iPhone und nicht von dem sicheren Handy, das er zurzeit benutzte. Er wälzte sich auf die andere Seite und öffnete die SMS, die gerade eingegangen war.
Herbert Sønderskov hatte einen Link geschickt.
Na endlich, dachte Curt, dann hat er es also doch durchgezogen. Wenigstens ein Problem hatte sich erledigt. Wenigstens eine Gefahrenquelle war ausgeschaltet. Das gab doch Grund zur Hoffnung.
Er musste einen Moment warten, bis sich der Link öffnete. Ein Foto erschien. Mit einem Satz richtete Curt sich auf.
Das Bild zeigte einen lächelnden, winkenden Herbert und eine ebenso lächelnde, winkende Mie, umgeben von großartiger Landschaft und üppiger Natur. Quer über dem Foto stand ein kurzer Text: Sie finden uns nie.
Curt schickte den Link an sein Notebook, öffnete ihn und vergrößerte das Foto, bis es den ganzen Bildschirm ausfüllte. Es war erst vor zehn Minuten aufgenommen worden, und der Himmel über dem Paar war im Schein der untergehenden Sonne vollkommen rot. Hinter ihnen waren Palmen und noch weiter im Hintergrund dunkle Menschen und das offene blaue Meer zu sehen.
Curt öffnete die ›Planet‹-App seines iPhones, die den aktuellen Stand der Sonne überall auf der Erde anzeigte, und tippte auf ›Globus‹. Bald sah er, dass als fruchtbare tropische Region, in der die Sonne soeben untergegangen war, nur die Südspitze Madagaskars in Frage kam. In der übrigen Welt lagen auf der Achse des Sonnenuntergangs entweder das offene Meer, die Wüsten des Nahen Ostens oder die gemäßigten Zonen des ehemaligen sowjetischen Imperiums.
Da die beiden mit dem Rücken zum Sonnenuntergang standen, mussten sie sich im Westen der Insel befinden. Eine große Insel, keine Frage, aber als Wiege des Vergessens nicht unbedingt geeignet. Dafür war sie nun doch nicht groß genug. Wenn er Mikael an die Südwestküste des Landes schickte und ihn nach zwei betagten, grauhaarigen Skandinaviern forschen ließ, wäre der Fall binnen kürzester Zeit erledigt. Mikael müsste lediglich hier und da ein paar Scheine verteilen und die Spuren dann im großen Meer auslöschen. Haie waren da sehr hilfreich.
Das war der erste aufbauende Gedanke des Tages.
Er lächelte und fühlte, wie ein Hauch von Energie zurückkehrte. Nichts zehrt mehr als halbherzige Entscheidungen und Handlungsunfähigkeit, hatte sein Vater zu sagen gepflegt. Ein kluger Mann.
Curt Wad schob seinen steifen Körper etwas zurück, sodass er aus dem Fenster blicken und die Rollenspielübungen der jungen Polizeianwärter gegenüber am Lindehjørnet beobachten konnte. Zu seinem Missfallen waren auch Dunkelhäutige unter den angehenden Polizisten, die offenbar gerade das Thema Verhaftungen durchexerzierten.
Da klingelte das Nokia-Handy auf dem Tisch.
»Mikael hier. Einer unserer Helfer, dessen Namen Sie nicht zu kennen brauchen, hat vor sieben Minuten beobachtet, wie Hafez el-Assad das Präsidium verlassen hat und im Moment von der Brücke Tietgensbro die Treppe zu den Bahnsteigen des Hauptbahnhofs hinuntergeht. Was sollen wir tun?«
Was sie tun sollten? Lag das nicht auf der Hand?
»Ihr verfolgt ihn. Und sofern sich die Gelegenheit bietet, greift ihr ihn und weg mit ihm. Lass das Handy an, dann kann ich dabeibleiben. Und sorgt dafür, dass er euch vorher unter keinen Umständen entdeckt.«
»Wir sind zu zweit und arbeiten Hand in Hand. Natürlich halten wir Abstand zu dem Mann, ganz ruhig.«
Curt lächelte. Der zweite Lichtblick des Tages. Vielleicht trat ja doch noch eine Wende ein.
Er legte sich wieder ins Bett neben seine sterbende Frau. Das Nokia-Handy drückte er unter seinem Ohr ins Kopfkissen. Hier prallten ultimative Gegensätze aufeinander - das Leben und der Tod.
Als er einige Minuten so dagelegen hatte und fühlte, dass Beates Atmung fast zum Stillstand gekommen war,
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