Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
festgezurrt waren. Zum Schreien hatte sie keine Kraft mehr.
So lag sie tagelang da, ohne ein Wort zu sprechen. Wenn Nete gefüttert werden sollte, drehte sie den Kopf weg und dachte an ihren Zufluchtsort hinter dem Hügel mit den Pflaumenbäumen und an die Strahlenbündel der Sonne, die funkelnd durch das Laub fielen. Und sie dachte an den Abdruck im Heu in der Scheune, nach ihren Liebesspielen mit Tage.
Sie konzentrierte sich intensiv auf diese Erinnerungen, denn sobald sie nicht aufpasste, schob sich das Bild von Curt Wads hochmütigem Gesicht vor ihr inneres Auge, und das ertrug sie einfach nicht.
Nein, an den wollte sie nicht einen einzigen Gedanken mehr verschwenden. Dieser Unmensch hatte ihr Leben ruiniert, endgültig und unwiederbringlich, das wusste sie nun. Niemals würde sie die Insel als die verlassen, die sie einmal gewesen war. Das Leben war an ihr vorbeigegangen. Und jedes Mal, wenn sich ihr Brustkorb beim Atmen hob, hoffte sie, der Atem würde stocken.
Das war meine letzte Mahlzeit, schwor sie sich. Curt Wad, dieser Inbegriff der Schlechtigkeit, machte es ihr unmöglich, sich ein Leben nach Sprogø vorzustellen.
Nachdem sie sich mehrere Tage lang nicht hatte füttern lassen und auch keinen Stuhlgang mehr hatte, wurde ein Arzt vom Festland herbeigerufen.
Er trat als rettender Engel auf, nannte sich einen »Helfer in der Not«. Aber die Hilfe bestand aus einer Kanüle im Arm und einer Fahrt zum Krankenhaus von Korsør.
Hier war sie unter ständiger Beobachtung. Aber sobald Nete um Barmherzigkeit und Nächstenliebe bat und darum, man möge ihr glauben, sie sei doch ein ganz gewöhnliches Mädchen, das Pech gehabt habe, wandten sich alle ab.
Nur ein einziges Mal war ein Mensch im Krankenzimmer, der bereit war, zuzuhören. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Nete bereits so viel Medizin bekommen, dass sie im Grunde nur döste.
Der Mann war Mitte zwanzig. Er besuchte ein kleines, schwerhöriges Mädchen, das am Morgen hereingebracht worden war und nun hinter dem Vorhang an der gegenüberliegenden Wand lag. Nete hörte, das Mädchen habe Leukämie. Zwar wusste sie nicht, was das bedeutete, aber ihr war doch klar, dass die Kleine bald sterben würde. Das erkannte sie trotz ihres betäubten Zustands an den Augen der Eltern, wenn sie hinter dem Vorhang hervortraten. Wie sehr Nete das Mädchen beneidete! Erlöst von den Grausamkeiten der Welt und mit lieben Menschen um sich, was konnte einem Besseres passieren? Und dazu dieser Mann, der kam, um der Kranken in ihrer verbleibenden Zeit Linderung zu verschaffen, indem er ihr vorlas und sie bat, selbst auch vorzulesen.
Nete schloss die Augen und hörte, wie seine beruhigende Stimme der hellen kleinen Stimme half, die Wörter und Sätze zu bilden, sodass sie einen Sinn ergaben, und zwar in einem Tempo, dem sogar Nete in ihrem benebelten Zustand folgen konnte.
Und als sie mit der Geschichte fertig waren, sagte der Mann, er komme am nächsten Tag wieder und dann würden sie weiterlesen.
Er lächelte Nete herzlich zu, während er an ihrem Bett vorbeiging.
Das war ein Lächeln, das ihr ans Herz ging und sie am Abend wieder ein wenig essen ließ.
Zwei Tage später war das Mädchen tot und Nete wieder unterwegs nach Sprogø, schweigsamer und in sich gekehrter als zuvor. Sogar Rita ließ sie nachts in Ruhe, aber die stand auf einmal auch vor ganz anderen Herausforderungen. Das galt im Übrigen für sie alle.
Denn mit demselben Schiff, das Nete auf die Insel zurückgebracht hatte, war Gitte Charles gekommen.
37
November 2010
C urt lag im Doppelbett auf der Seite und starrte auf die fast durchsichtigen Lider seiner geliebten Frau, die sich seit drei Tagen nicht mehr geöffnet hatten. Derweil hatte er alle Zeit der Welt, die Ereignisse der letzten Tage zu verfluchen.
Im Augenblick bröckelte alles. Der Sicherheitsapparat, der eigentlich dazu angelegt war, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, beging fatale Fehler. Menschen, die bisher geschwiegen hatten, schnauzten auf einmal drauflos.
Der Triumph, den er mit der Partei erlebte, wurde überschattet von einer nicht enden wollenden Serie desaströser Vorfälle. Es kam ihm fast so vor, als schnappten hungrige Bestien nach ihm und seinem Lebenswerk.
Warum gelang es nicht, die beiden Kripomenschen auszuschalten? Mikael, Lønberg und Caspersen, alle hatten sie gelobt, ihr Bestes zu tun und bis zum Äußersten zu gehen, aber das war scheinbar nicht genug.
Ein Zucken lief über Beates Gesicht, fast unmerklich zwar, aber
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