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Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung

Titel: Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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der Stelle tot«, waren seine ersten Worte. »Es tut uns sehr leid«, kam erst viel später. Es ging nur darum, die richtigen Tatsachen in den richtigen Zusammenhängen darzulegen. Vermutlich hatte der Motorblock, der bei dem Aufprall halb in den Fahrersitz gepresst worden war, Andreas Rosen getötet. Und statt ihm zu helfen, dem nicht mehr zu helfen war, hatten sich die Rettungskräfte darauf konzentriert, Nete aus dem Wagen zu holen. Der Einsatz der Katastrophenbereitschaft sei vorbildlich gewesen. Er formte das Wort, als wäre es nun an ihr, zu lächeln.
    »Wir haben Ihre Beine gerettet, Frau Rosen. Höchstwahrscheinlich werden Sie etwas hinken, aber das ist trotz allem besser als die Alternative.«
    An dem Punkt gelang es ihr nicht mehr, zuzuhören.
    Andreas war tot.
    Er war gestorben, ohne sie mitzunehmen auf die andere Seite, und nun musste sie ohne ihn leben. Ohne den einzigen Menschen, den sie von Herzen geliebt hatte. Den einzigen Menschen, der ihr das Gefühl gegeben hatte, ganz zu sein.
    Ihn hatte sie umgebracht.
    »Sie döst jetzt weg«, sagte einer der anderen Ärzte, aber das stimmte nicht. Sie zog sich einfach nur in sich selbst zurück. Dorthin, wo Verzweiflung und Scheitern und deren Ursachen verschmolzen und wo Curt Wads Gesicht aufflammte wie das Höllenfeuer.
    Ohne ihn wäre alles in ihrem Leben anders gekommen.
    Ohne ihn und all die anderen.
    Nete unterdrückte den Schrei und die Tränen, die frei hätten fließen müssen. Sie gab sich selbst ein Versprechen. Ehe sie das Leben loslassen würde, sollten erst alle diese anderen am eigenen Leib spüren, worum sie sie, Nete, betrogen hatten.
    Sie hörte, wie die Ärzteschar den Raum verließ. Die hatten sie in dem Moment bereits vergessen, die waren in Gedanken bereits im nächsten Krankenzimmer.

    Nachdem sie Netes Mutter begraben hatten, war der Ton im Haus rauer geworden. Ihr Vater fand, dass Gottes Wort und seine Gebote zum Sonntag gehörten und im Alltag eines Bauernhofes keinen Platz hatten. Und so lernte Nete, die damals fünf Jahre alt war und eine schnelle Auffassungsgabe hatte, Wörter und Ausdrücke, mit denen andere Mädchen erst sehr viel später im Leben Bekanntschaft machten, wenn überhaupt. Die Kollaborateure, die für die Deutschen arbeiteten und deren Ausrüstung in Odense reparierten, hießen »Drecksäcke«, und diejenigen, die ihnen zuarbeiteten, waren »stinkende Arschlöcher«. In Netes Zuhause nannte man die Dinge beim Namen. Wer vornehm daherreden wollte, musste woanders hingehen.
    Nete bekam schon am allerersten Schultag zu spüren, was eine Ohrfeige war. Sechzig Schüler standen in Reih und Glied vor dem Gebäude, und Nete ganz vorn.
    »Verdammt viele Kinder hier«, sagte sie laut. Da machte sie sogleich mit der energischen rechten Hand der Lehrerin Bekanntschaft und zog sich auf ewig deren Unwillen zu.
    Später, als die Rötung der Wange nachließ und einem blauen Fleck Platz machte, hatten ein paar Konfirmanden aus der Dorfschule sie am Wickel. Denen gab sie bereitwillig wieder, was ihre älteren Brüder erzählt hatten: dass man den Schwanz zum Spritzen bringen konnte, wenn man die Vorhaut immer wieder vor- und zurückzog.
    An diesem Abend saß sie weinend in der Stube und versuchte, ihrem Vater die blauen Flecken in ihrem Gesicht zu erklären.
    »Du wirst sie verdient haben«, sagte ihr Vater nur. Für ihn war der Fall damit erledigt. Er war seit drei Uhr morgens auf den Beinen und todmüde. So ging es jeden Tag, seit der Älteste einen Platz auf dem Gut in Birkelse gefunden hatte und die Zwillinge oben im Hafen von Hvide Sande angeheuert hatten.
    Danach kamen von der Schule immer wieder mal Klagen über Nete, aber ihr Vater hatte nie den Ernst der Lage erfasst.
    Und die kleine Nete verstand die Welt nicht mehr.

    Eine Woche nach dem Unfall stellte sich eine der jungen Krankenschwestern zu ihr ans Bett und fragte sie, ob es nicht jemanden gebe, zu dem man Kontakt aufnehmen könne.
    »Ich glaube, Sie sind die Einzige auf der Station, die nie Besuch bekommt«, sagte sie. Bestimmt sollte das ein freundlicher Versuch sein, das Schweigen aufzubrechen, in das sich Nete zurückgezogen hatte. Aber die mauerte nur noch mehr.
    »Nein, es gibt niemanden«, sagte Nete und bat, in Ruhe gelassen zu werden.
    Am selben Abend kam ein junger Anwalt aus Maribo und behauptete, der Nachlassverwalter ihres Mannes zu sein. Bald würden einige Unterschriften benötigt, um das Nachlassverfahren einleiten zu können. Auf ihren Zustand ging er

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