Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
War es denkbar, dass er gesehen hatte, wie Philip Nørvig ins Haus gegangen war und nicht wieder herauskam?
Sie rieb sich den Nacken. Ohne Curt Wad keine Genugtuung und keine Ruhe. Die Spannung begann nach und nach, ihren Hinterkopf zu umfassen. Wenn sie nicht sofort ihr Medikament einnahm, würde sich die Migräne festsetzen, und dazu hatte sie jetzt weder Zeit noch Kraft. Im Moment, und mehr denn je, musste sie klar im Kopf und ganz bei der Sache sein.
Es pochte schon in den Schläfen, als sie im Bad das Pillenglas aus dem Medizinschrank nahm. In diesem Glas war nur noch eine Tablette übrig, aber zum Glück hatte sie ein zweites Glas im Schrank mit der Tischwäsche. Sie ging in den Flur und starrte zögernd auf die verschlossene Esszimmertür. Es half nichts, sie musste sich noch einmal in diese Szenerie mit Silberbesteck, Wasserkaraffe, Kristallgläsern und all den erkalteten Körpern begeben, die bereits ihre letzte Mahlzeit eingenommen hatten.
So schnell, wie sie die Tür zum abgedichteten Raum öffnete, schloss sie sie auch wieder hinter sich. Der Gestank war beträchtlich, und das lag an Philip Nørvig.
Sie bedachte seine Leiche mit einem vorwurfsvollen Blick. Da hatte sie noch was auszuhalten, wenn die Körper alle fertig gemacht werden mussten.
Nete holte sich das Pillenglas, dann setzte sie sich ans Tischende und warf einen Blick in die Runde.
Bis auf Cousin Tage, der noch immer wie ein gestrandeter Wal auf dem Fußboden lag, saßen sie alle hübsch ordentlich am Tisch. Rita, Viggo und Nørvig.
Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, nahm drei Tabletten in den Mund, wohl wissend, dass es vielleicht eine zu viel war, und erhob das Kristallglas.
»Zum Wohl, meine Herrschaften«, sagte sie zu den hängenden Köpfen mit den matten Augen und spülte die Tabletten mit dem Wasser hinunter.
Nete lachte und dachte an all das Formalin, das sie ihren stummen Gästen in den Rachen zu füllen gedachte. Das würde den Verwesungsprozess hoffentlich abmildern.
»Ja, Sie werden Ihr Getränk schon noch kriegen, aber Sie müssen etwas warten. Sie bekommen nämlich noch Gesellschaft. Einige von Ihnen kennen die Dame bereits, es ist Gitte Charles. Ja, Sie haben richtig gehört. Der blonde Teufel, der einigen von uns das Leben auf der Hölleninsel endgültig zum Albtraum gemacht hat. Sie war einmal sehr hübsch, wollen wir hoffen, dass sie es immer noch ist. Ich möchte nicht, dass sie das Niveau hier senkt.«
Jetzt lachte Nete schallend, bis ihr die Verspannung im Nacken signalisierte, dass es reichte. Dann stand sie auf, verbeugte sich vor ihren Gästen und verließ eilends den Raum.
Gitte Charles sollte nicht auf sie warten müssen.
Nach dem Frühstück hatte Rita Nete beiseitegenommen. »Hör zu, Nete. Wenn Gitte genug von dir hat, wirst du einfach ausrangiert, dann bekommst du die Konsequenzen zu spüren. Du hast ja gesehen, was mit mir passiert ist.«
Sie hielt Nete den bloßen Unterarm hin und zeigte ihr die Einstiche der Spritzen. Fünf, zählte Nete. Vier mehr als sie selbst bekommen hatte.
»Mein Leben hier draußen ist die Hölle«, fuhr Rita fort, sich immerzu wachsam umschauend. »Diese Scheißweiber sagen mir andauernd, ich solle gefälligst meine Klappe halten, und wenn ich nicht achtgebe, schlagen sie mich. Ich muss die Klos putzen und die Menstruationsbinden auswaschen und bekomme die allerschlimmsten Arbeiten mit den allerschlimmsten Idiotinnen, den lieben langen Tag. Und trotzdem regen sich die Weiber die ganze Zeit über mich auf und weisen mich zurecht. ›Das darfst du nicht und jenes darfst du nicht, das haben wir über dich erfahren und jenes erzählt man sich.‹ Aber das stimmt alles nicht, Nete. Ich bin einfach Freiwild - und das ist Gittes Schuld. Schau nur.«
Rita wandte ihr den Rücken zu, löste die Schnallen ihres Overalls, zog die Hose herunter und zeigte ihr eine Reihe blauroter Striemen quer über die Oberschenkel. »Glaubst du, die kommen von allein?«
Dann wandte sie sich Nete mit erhobenem Zeigefinger zu. »Und ich weiß genau, dass sie den Oberarzt, wenn er das nächste Mal hier aufkreuzt, überreden werden, mich zu sterilisieren. Deshalb muss ich weg, Nete. Und du musst mit! Ich brauche dich.«
Nete nickte. Dass Gitte Charles ihr mit dem Bilsenkraut drohte, war eine Sache. Eine andere war, wie eiskalt Gitte zu den Mädchen war, wie sie sie grinsend herumkommandierte und sie trotz ihrer Fügsamkeit und ihres Eifers nach Gutdünken zur Sterilisierung vormerken ließ. Auch
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