Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
etwas in dem Krankenblatt stehen.«
»Nein, aber dafür steht da etwas mindestens ebenso Interessantes.«
»Was denn, Rose? Nun mach's doch nicht so spannend!«
»Dort steht der Name des Mannes, der sie schwängerte. Der Name von dem, mit dem das Ganze anfing.«
»Und?«
»Das war Viggo Mogensen. Der, von dem Nete vor ein paar Tagen, als ihr bei ihr wart, behauptete, sie würde ihn nicht kennen.«
43
September 1987
N ete erkannte Gitte Charles bereits von Weitem an ihrer Silhouette. Sie kam vom Seepavillon her und hatte denselben charakteristischen Gang wie damals, dasselbe Schwingen der Arme. Augenblicklich bekam Nete Gänsehaut. Über dreißig Jahre war ihr der Anblick erspart geblieben, bei dem sie nun unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte. Mit einem prüfenden Blick durchs Zimmer vergewisserte sie sich, dass sie bestens vorbereitet war. Sie wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen, und dafür musste einfach alles glattgehen. Leider hatten die Kopfschmerzen trotz der Tabletten nicht nachgelassen, im Gegenteil, es war, als schnitten Rasiermesser in ihre Hirnrinde. Sie war kurz davor, sich zu übergeben.
Diese verfluchte Migräne, dachte sie. Ob sie die wohl loswürde, wenn sie all das hier hinter sich ließ? All das, was sie immer wieder aufs Neue an das Leben erinnerte, das man ihr genommen hatte?
Ja, sie musste unbedingt für ein paar Monate weg, dann würde alles anders werden. Vielleicht würde sie sogar damit leben können, dass Curt Wad ihr durch die Lappen gegangen war.
So, wie er sich im Moment verhielt, würde ihn seine Vergangenheit schon früher oder später einholen.
Dieser tröstende Gedanke gab ihr unvermittelt Kraft, um ihren letzten Gast in Empfang zu nehmen.
Vier Tage waren nach der Brandstiftung und dem missglückten Fluchtversuch vergangen, da kamen zwei Polizisten in Uniform, um Rita und Nete abzuholen. Kein Wort, was mit ihnen passieren würde, aber daran bestand wohl auch kein Zweifel - schließlich war Gitte Charles' Rache immer strikt auf ein Ziel ausgerichtet, das war allgemein bekannt. Deshalb wurden Rita und Nete erst übers Meer und dann in einem Krankenwagen zum Krankenhaus von Korsør gebracht. Sie waren mit ledernen Riemen gefesselt wie Strafgefangene auf dem Weg zur Hinrichtung. Und so fühlten sie sich auch, als sie die Pfleger mit ihren behaarten Armen entschlossen auf sich zukommen sahen. Rita und Nete schrien und traten um sich, während sie durch die Station getrieben wurden. Man schnallte sie am Bett fest, dann ließ man sie warten. Seite an Seite lagen sie da, baten und flehten und weinten um ihre ungezeugten, ungeborenen Kinder. Dem Krankenhauspersonal war es anscheinend einerlei. Die Pfleger hatten schon zu viele dieser »moralisch verderbten« Individuen erlebt, um sich von deren Tränen und Appellen erweichen zu lassen.
Schließlich begann Rita wie von Sinnen zu brüllen. Zuerst wollte sie mit dem Oberarzt sprechen, dann mit der Polizei und am Ende sogar mit dem Bürgermeister von Korsør. Es half alles nichts.
Nete stand währenddessen unter Schock.
Irgendwann kamen zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern herein. Paarweise und ohne ein Wort zu sprechen, stellten sie sich neben die beiden Betten und bereiteten die Injektionen vor. Sie sagten - wahrscheinlich zur Beruhigung -, es sei nur zu ihrem Besten, denn anschließend könnten sie ein normales Leben führen. Aber Netes Herz klopfte zum Zerspringen, vor ihrem inneren Auge defilierten lauter kleine Kinder, die sie nicht würde gebären können. Als schließlich die Kanüle in sie gestoßen wurde, blieb ihr fast das Herz stehen. Und dann gab sie sich und ihre Träume auf.
Einige Stunden später kam sie wieder zu sich. Übrig geblieben waren nur die Schmerzen im Unterleib und der Verband. Alles andere hatte man ihr genommen.
Zwei Tage lang redete Nete kein einziges Wort, und auch danach, als man sie und Rita zurück nach Sprogø brachte, sprach sie nicht. Sie zog sich komplett in ihre Trauer und Bitterkeit zurück.
»Die dumme Ziege kriegt den Mund nicht mehr auf, vielleicht hat sie ja doch was draus gelernt«, höhnten die Angestellten gern, und zwar so laut, dass sie es hörte. Es stimmte, einen Monat lang sagte sie kein einziges Wort. Warum auch?
Und dann wurde sie plötzlich entlassen.
Rita hingegen behielten sie auf der Insel. Es gebe trotz allem Grenzen der Zumutbarkeit für die Gesellschaft, hieß es.
Nete stand am Heck des Schiffs und sah zu, wie die Wellen die Insel
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