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Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung

Titel: Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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sie war und wie sie blinzelte, um sich vor seinem forschenden Blick zu schützen.
    War er das wirklich?
    »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie aufmerksam du uns damals zugehört hast? Doch, das habe ich. Diese blauen Augen vergisst man nicht so leicht.«
    Dann streckte er ihr vorsichtig die Hand hin, ohne zuzugreifen. Ließ die eigene Hand vor ihrer Hand in der Luft hängen und wartete.
    Wartete, bis sie die Finger ausstreckte. Und die Hand ergriff.

    In der Amtswohnung in Bredebro veränderte sich Netes Leben auf einen Schlag und von Grund auf.
    Seit der Ankunft hatte sie auf ihrem Bett gelegen und war darauf gefasst, dass die Schufterei losginge. Hatte harte Worte erwartet und Wortbruch, das Einzige, was sie kannte.
    Doch stattdessen kam die junge Frau, Marianne Hanstholm, und nahm sie mit in ihre Schule. Dort deutete sie auf eine Papptafel.
    »Schau dir das mal an, Nete. Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen und du nimmst dir so viel Zeit zum Antworten, wie du brauchst. Machst du mit?«
    Nete sah die Buchstaben an der Tafel. Gleich würde ihre Welt wieder einstürzen, denn sie wusste genau, worauf das hinauslief.
    All diese Zeichen an der Tafel waren schon damals in der Dorfschule ihr Verhängnis gewesen. Das Sirren des Rohrstocks vor dem Hieb auf den Hintern, das vergaß man nicht so leicht, auch nicht den Schlag mit dem Lineal auf die Finger. Und wenn diese Marianne Hanstholm erst herausfand, dass Nete nur weniger als ein Viertel der Buchstaben kannte und diese darüber hinaus auch nicht zu Wörtern zusammensetzen konnte, würde sie im Handumdrehen zurück in den Morast gestoßen werden, wo sie hingehörte, wie alle immerzu sagten.
    Nete presste die Lippen zusammen. »Ich würde gern, Frau Hanstholm. Aber ich kann nicht.«
    Sie sahen sich einen Moment stumm an. Nete wartete auf den Schlag. Marianne Hanstholm lächelte jedoch nur.
    »Glaub mir, meine Liebe, du kannst. Nur nicht so gut. Magst du mir einfach erzählen, welche der Buchstaben du kennst? Darüber würde ich mich sehr freuen.«
    Nete runzelte die Stirn. Und da nichts weiter passierte, als dass die Frau lächelte und auf die Papptafel deutete, stand sie widerstrebend auf und stellte sich davor.
    »Ich kenne diesen Buchstaben hier.« Sie deutete darauf. »Das ist ein N, denn damit fängt mein Name an.«
    Frau Hanstholm klatschte in die Hände und lachte vor Freude. »Dann fehlen uns ja bloß noch achtundzwanzig Buchstaben, ist das nicht großartig?«, rief sie und umarmte Nete. »Warte nur, wir werden es ihnen schon allen zeigen.«
    So herzlich umarmt begann Nete zu zittern, aber die Frau hielt sie fest und flüsterte, jetzt werde alles besser. Es war kaum zu glauben.
    Und deshalb konnte Nete auch gar nicht mehr aufhören, zu zittern und zu weinen.
    In dem Moment kam Erik Hanstholm herein und war sofort tief bewegt, als er Netes blanke Augen und hochgezogene Schultern sah.
    »Ach, Nete. Wein dich nur aus, meine Liebe, denn ab jetzt sollst du das alles nicht mehr mit dir herumtragen«, sagte er. Fast flüsternd fügte er noch etwas hinzu, das nach und nach an die Stelle all des Schlimmen treten sollte, das sie durchlebt hatte.
    »Du bist gut genug, Nete. Vergiss das niemals: Du bist gut genug.«

    Im Herbst 1961 begegnete sie Rita vor der Apotheke auf der Hauptstraße von Bredebro. Noch ehe Nete überhaupt auf das Wiedersehen reagieren konnte, platzte Rita schon mit der Neuigkeit heraus: »Sie haben die Anstalt auf Sprogø geschlossen.« Rita lachte über Netes schockierte Miene.
    Dann wurde sie ernst.
    »Die meisten von uns kamen in Pflegefamilien, wo man für Kost und Logis arbeitet, insofern hat sich nicht sonderlich viel verändert. Schuften von morgens bis abends und keinen roten Heller, um sich mal was Süßes zu kaufen. Das ist man schnell leid, Nete.«
    Nete nickte. Damit kannte sie sich aus.
    Dann versuchte sie, Rita in die Augen zu sehen, aber das war schwer. Sie hatte nicht damit gerechnet, diesem Blick jemals wieder zu begegnen.
    »Warum bist du hergekommen?«, fragte Nete schließlich, wusste aber eigentlich nicht, ob sie die Antwort hören wollte.
    »Ich arbeite nur zwanzig Kilometer von hier entfernt in einer Meierei. Pia, die Nutte aus Århus, ist auch dort gelandet, und wir schuften von fünf Uhr früh bis spät abends, ein Elend, sag ich dir. Deshalb bin ich hergelaufen, um dich zu fragen, ob du mit mir mitkommen willst.«
    Mitkommen? Mit Rita? Oh Gott, nur das nicht! Was für eine entsetzliche Vorstellung. Alles in Nete

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