Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
umschlossen und wie der Leuchtturm langsam hinter dem Horizont versank. Eigentlich, dachte sie, könnte ich genauso gut dort bleiben, denn das Leben ist vorbei.
Die erste Familie, zu der sie kam, bestand aus einem Schmied, seiner Frau und ihren drei Söhnen, alle Mechaniker. Sie lebten von allerlei anfallenden Arbeiten und Tauschgeschäften. Keine Familie schimpfte und zeterte so wie diese. Und da sie gern andere für sich schuften ließen, kam ihnen Nete gerade recht. Sie sollte Ordnung schaffen auf dem Grundstück, das übersät war mit rostigen Maschinenteilen, und der barschen, unfreundlichen Hausfrau zur Hand gehen, deren einziges Vergnügen darin bestand, andere und vor allem Nete zu schikanieren.
»Luder, Zigeunerin, Trampel«, hieß es tagein, tagaus, und wann immer es einen Anlass gab, sie zu verhöhnen, wurde der genutzt.
»Du blöde Kuh, kannst du nicht lesen, was da steht?« Die Hausfrau deutete auf die Rückseite des Waschpulverpakets. Und da Nete es nicht konnte, gab es zur Demütigung noch obendrein einen Schlag auf den Hinterkopf.
»Verstehst du kein Dänisch, du doofe Nuss?«, wurde die stehende Redewendung im Haus, und Nete schrumpfte, bis fast nichts mehr von ihr übrig war.
Die Söhne des Hauses fassten ihr an die Brust, wann immer sie wollten, und der Mann drohte, noch weiter zu gehen. Wenn sie sich wusch, kamen sie einer nach dem anderen an, stellten sich schnüffelnd wie die Hunde vor die Tür und grölten schamlos und geil herum.
»Lass uns rein, Nete. Wir werden schon dafür sorgen, dass du quiekst wie das Schwein, das du bist.«
So vergingen die Tage. Die Nächte waren besonders übel. Da verschloss sie die Tür zu ihrer Kammer, schob den Rohrstuhl unter die Türklinke und legte sich am Fußende des Betts auf den Boden. Sollte es einem von denen gelingen, ins Zimmer einzudringen, würde sie ihn gebührend empfangen - mit einem leeren Bett und einem schweren Eisenrohr, das sie unten im Garten gefunden hatte. Damit würde sie draufhauen, egal, ob sie den Kerl nun halb oder ganz totschlug. Was konnte ihr schon zustoßen, das schlimmer war als das hier?
Einmal überlegte sie, ob sie etwas von dem Bilsenkraut, das sie von der Insel mitgenommen hatte, unter den Abendkaffee der Familie mischen sollte. Aber der Mut verließ sie, und so wurde daraus nichts.
Als die Hausfrau ihrem Mann eines Tages mal wieder eine schallende Ohrfeige verpasste, war das Maß bei ihm offenbar voll, denn er schnappte sich die Schrotflinte und zielte auf den Kopf seiner Frau.
Anschließend saß Nete stundenlang mutterseelenallein in der Küche und schaukelte ruhelos vor und zurück, während die Polizeitechniker Schrotkörner und Fleischbrocken von den Wänden pulten.
Erst gegen Abend erhielt Nete Klarheit über ihr weiteres Schicksal.
Da stellte sich ein ziemlich junger Mann, vielleicht sechs bis sieben Jahre älter als sie selbst, vor sie hin, reichte ihr die Hand und sagte: »Ich heiße Erik Hanstholm. Meine Frau Marianne und ich wurden gebeten, für dich Sorge zu tragen.«
Die Worte »Sorge tragen« klangen seltsam fremd in Netes Ohren, wie das schwache Echo einer Musik, die sie vor Ewigkeiten gehört hatte. Zugleich jedoch auch wie ein Warnsignal. An solche Worte hatte sie sich immer wieder aufs Neue vergeblich geklammert. In diesem entsetzlichen Haus hier waren sie allerdings niemals zu hören gewesen.
Sie betrachtete den Mann. Er schien nett zu sein, aber das schüttelte sie ab. Zu oft hatte sie sich in der Freundlichkeit von Männern bitter getäuscht.
»Dann ist es wohl so«, sagte sie nur und zuckte die Achseln. Was konnte sie schon sagen? Sie hatte ja nichts zu sagen.
»Marianne und ich teilen uns eine Stelle, wir unterrichten gehörlose Menschen in Bredebro. Das ist zwar drüben im finsteren Jütland, aber vielleicht hast du trotzdem Lust, zu uns zu kommen?«
Erst in diesem Augenblick sah sie ihn richtig an. Wie oft hatte sie die Möglichkeit gehabt, ihr Zuhause selbst zu wählen? Kein einziges Mal, soweit sie sich erinnern konnte. Und hatte sich überhaupt mal jemand mit Worten wie »vielleicht« und »hast du Lust« an sie gewandt? Seit dem Tod ihrer Mutter niemand, ganz sicher.
»Wir haben uns schon einmal gesehen, aber das ist viele Monate her«, erklärte der Mann. »Ich habe zusammen mit einem schwerhörigen und sehr kranken Mädchen im Krankenhaus von Korsør ein Buch gelesen und du lagst im Krankenbett gegenüber. Kannst du dich daran erinnern?«
Er nickte, als er sah, wie verwirrt
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