Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
einmal, aber bitte langsam und der Reihe nach.«
Carl runzelte die Stirn. Für eine ältere Dame war sie ziemlich unverblümt. Kein Nachdenken, kein Zögern, keine halben Sätze oder Fragen. Nur die direkte Aufforderung an ihn, alles noch einmal von vorne zu erzählen.
Warum? Und warum sollte er es langsam erzählen? Wollte sie Zeit gewinnen? Hatte sie die Minuten, die er vor der Tür gewartet hatte, gebraucht, um jemanden zu warnen? Jemanden, der ihr auf irgendeine Weise aus der Klemme helfen würde?
Carl verstand es nicht. Denn mit ihrem Erzfeind Curt Wad konnte sie doch unmöglich unter einer Decke stecken.
Nein, wenn hier einer Fragen hatte, dann Carl. Nur welche, das wusste er nicht so recht.
Er kratzte sich am Kinn. »Hätten Sie etwas dagegen, Frau Hermansen, wenn wir Ihre Wohnung durchsuchten?«
In diesem Moment warf sie doch einen kurzen Blick zur Seite. Es war ein kleines, fast unmerkliches Zeichen der Flucht aus der aktuellen Situation, wie er es schon zigmal gesehen hatte. Ein unmerkliches Zeichen, das ihm jedoch mehr verriet als tausend Worte.
Jetzt würde sie Nein sagen.
»Tja, also, wenn Sie das für nötig halten, dürfen Sie sich gern etwas umschauen. Hauptsache, Sie wühlen nicht zu sehr in meinen Schubladen herum.«
Sie gab sich Mühe, kokett auszusehen, aber das gelang ihr nicht hundertprozentig.
Carl rutschte auf dem Sitz nach vorn. »Ja, dann würde ich das gern tun. Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie mir damit Ihr Einverständnis gegeben haben, alle Zimmer zu inspizieren und alles durchzusehen, was mir in den Sinn kommt. Es sollte Ihnen klar sein, dass das eine ziemlich gründliche und langwierige Sache werden kann.«
Sie lächelte. »Na, trinken Sie doch erst mal Ihren Kaffee, denn das wird Sie Energie kosten. Die Wohnung ist nicht gerade klein.«
Er nahm einen Schluck, und da die Brühe entsetzlich schmeckte, stellte er die Tasse schnell wieder ab.
»Ich rufe nur eben meinen Vorgesetzten an und möchte Sie bitten, Ihr Einverständnis auch ihm gegenüber zu bestätigen, ja?«
Sie nickte, stand auf und ging in die Küche. Sie musste sich wohl doch erst mal fassen.
Ja, Carl war sich völlig sicher. Irgendetwas stimmte nicht.
»Hallo Lis«, sagte er, als sie endlich abnahm. »Sag doch bitte Marcus ...«
Da bemerkte er den Schatten hinter sich und schnellte herum.
Gerade noch rechtzeitig, um den Hammer zu sehen, der direkt auf seinen Hinterkopf zielte.
45
November 2010
D ie ganze Nacht hindurch und noch am folgenden Morgen hatte Curt Wad die Hand seiner geliebten Frau gehalten. Sie gedrückt, geküsst und gestreichelt, bis der Bestatter gekommen war.
Als man ihn später bat, ins Zimmer zu kommen, und er sie dort in schneeweiße Seide gehüllt im Sarg liegen sah, die Hände um den Brautstrauß gefaltet, zitterte er vor Erschütterung. Das Licht seines Lebens, die Mutter seiner Kinder. Dort lag sie nun. Aus der Welt gegangen, ohne ihn.
»Warten Sie noch, lassen Sie mich einen Moment mit ihr allein«, bat er und sah den Männern nach, bis diese das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Dann kniete er sich vor sie hin und strich ihr ein letztes Mal über die Haare.
»Ach, mein Schatz, meine Geliebte«, wollte er sagen, doch ihm versagte die Stimme. Er wischte sich über die Augen, aber die Tränen hatten ihren eigenen Willen. Er räusperte sich. Das Weinen steckte im Hals fest.
Jetzt schlug er das Kreuz über ihrem Gesicht und küsste sanft die eiskalte Stirn.
In der Schultertasche, die neben ihm auf dem Boden stand, hatte er alles, was nötig war. Zwölf Ampullen à zwanzig Milliliter Propofol, von denen drei bereits auf Spritzen aufgezogen waren. Das war genügend Anästhetikum, um wen auch immer außer Gefecht zu setzen, ja, seines Wissens sogar ausreichend, um fünf bis sechs Menschen umzubringen. Und sollte es die Situation erfordern, hatte er auch Flumazenil dabei, das der betäubenden Wirkung des Propofols entgegenzuwirken vermochte. Er war gut vorbereitet.
Heute Nacht sehen wir uns wieder, meine Geliebte, dachte er und stand auf. Er hatte beschlossen, dass erst noch zwei andere Menschen sterben mussten, bevor er selbst an die Reihe kam.
Er wartete nur noch auf den Anruf.
Wo steckte Carl Mørck?
Seinen Gewährsmann traf er zwei Häuser entfernt von Nete Hermansens Wohnung am Peblinge Dossering. Es war derselbe, der Hafez el-Assad niedergeschlagen hatte.
»Ich hatte geglaubt, er würde den ganzen Weg zu Fuß gehen,
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