Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
alle.
Am heutigen Tag brummte es im Präsidium nur so vor Aktivität. Gäste wurden an der Wache empfangen, die Etage der Präsidentin schien zu flirren, im Büro des Staatsanwalts herrschte emsiges Kommen und Gehen.
Carl wusste, warum.
Das mit dem Geheimen Kampf und mit den Menschen, die dahinterstanden, das war Sprengstoff. Und bei Sprengstoff war die Gefahr, dass er explodierte, wenn man nicht äußerst sorgsam damit umging, nun einmal sehr groß. Herr im Himmel, wie fürchterlich sorgsam gingen alle derzeit mit dem vorhandenen Material um.
Vierzig Anzeigen im Laufe des Tages, so hatte man im System kalkuliert, und in jedem einzelnen Fall mussten eiligst konkrete Fakten beigebracht werden, um Festnahmen zu rechtfertigen. Der Zug rollte. Schon waren sämtliche Polizeibeamte, deren Namen auf Curt Wads geheimer Sympathisantenliste auftauchten, zur Anhörung einbestellt. Wenn hier etwas zur Unzeit nach außen drang, wäre der Teufel los.
Carl wusste, dass in allen Abteilungen und Dezernaten die richtigen Leute an dieser Aufgabe arbeiteten, das hatten sie zur Genüge bewiesen. Aber genauso gut wusste er, dass es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immer jede Menge undichte Stellen gab. Zwar waren im Augenblick Curt Wads niedere Handlanger und Sturmtrupps an sich irrelevant, sie bildeten dennoch gewissermaßen das Netz, durch das etwas durchsickern konnte. Und das musste unbedingt verhindert werden. Auf keinen Fall durften diejenigen mit der Macht und dem Überblick, die Strategen und Taktiker, auf die man es abgesehen hatte, vorzeitig Lunte riechen. Deshalb galt es, die kleinen Fische mit äußerster Sorgfalt und Geduld zu vernehmen, wenn man die großen Fische ins Netz kriegen wollte.
Das Problem war nur, dass Carl, der sowieso ungeduldiger war als die meisten anderen, jetzt erst recht nicht geduldig abwarten konnte. Die ärztlichen Prognosen zu Assads Zustand hatten sich nicht geändert. Man konnte von Glück sagen, wenn er überlebte. Wie, bitte schön, sollte Carl in einer solchen Situation Geduld aufbringen?
Er saß in seinem Büro und überlegte, was wohl das Beste wäre. In seinen Augen handelte es sich um zwei Fälle, die vielleicht zusammengehörten, vielleicht aber auch nicht. Die Vermissten aus dem Jahr 1987 waren das eine, die Gewalt, über Jahrzehnte hinweg, gegen die unzähligen Frauen - und zuletzt auch gegen Assad und ihn selbst - war das andere.
Und nun hatte Rose ihn verwirrt. Bis jetzt hatten sie das Augenmerk bei ihren Ermittlungen auf Curt Wad gerichtet. Nete Hermansen hatten sie als dessen Opfer betrachtet; sie schien unverschuldet ein merkwürdiges Bindeglied zwischen den Verschwundenen zu sein, nichts weiter. Aber seit Roses Hinweis läuteten bei Carl sämtliche Alarmglocken.
Warum zum Teufel hatte Nete Hermansen Assad und ihn angelogen? Warum hatte sie die Verbindung zu sämtlichen verschwundenen Personen eingeräumt, nur nicht die zu Viggo Mogensen? Dabei war er doch in Wahrheit derjenige, dem sie diese unglückliche Verkettung in ihrem Leben zu verdanken hatte? Schwangerschaft, Abtreibung, Vergewaltigung, Abschiebung in Anstalten und Zwangssterilisierung.
Carl verstand es nicht.
»Richte Marcus Jacobsen aus, dass er mich übers Handy erreichen kann«, sagte er dem wachhabenden Beamten, nachdem er sich entschlossen hatte, Nete Hermansen noch einmal auf den Zahn zu fühlen.
Seine Füße wollten die Richtung zum Parkhaus einschlagen, wo der Dienstwagen stand, aber der Kopf bemerkte den Fehler und korrigierte die Richtung. Zu blöd aber auch, er hatte doch kein Auto, das stand ja noch bei Rose.
Er blickte hinüber zur Post und nickte ein paar Zivilen zu, die gerade ausrückten. Warum nicht zu Fuß gehen? Zwei Kilometer, das war für einen Mann im besten Alter ja wohl nicht der Rede wert.
Doch er kam nur die wenigen Hundert Meter bis zum Hauptbahnhof, wo der untrainierte Körper protestierte und die Taxen lockten.
»Fahren Sie bis zum Ende der Korsgade unten an den Seen«, bat er den Taxifahrer. Er sah über die Schulter, aber die Menschen um ihn herum summten wie ein Bienenschwarm. Es war unmöglich, zu erkennen, ob ihm jemand gefolgt war.
Er fühlte nach, ob er die Pistole dabeihatte. Dieses Mal sollte ihn keiner mit runtergelassener Hose erwischen.
Die Überraschung der älteren Dame über sein Klingeln war sogar durch die Gegensprechanlage zu hören. Aber sie erkannte seine Stimme und bat ihn, ins Haus zu kommen und vor der Wohnungstür einen Moment zu warten.
Da stand er dann
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