Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Nielsen.« Er warf einen Stoß Fotokopien auf den Tisch. »Rose ist gerade dabei, herum zu telefonieren, und in der Zwischenzeit sollen wir die hier durcharbeiten, hat sie gesagt.«
Carl nahm die Kopien und deutete auf die Wattebäusche. »Wenn du diese Tampons nicht sofort rausnimmst, kann ich mich nicht konzentrieren.«
»Dann tropfe ich, Carl.«
»Dann tropfst du eben. Sieh einfach nur zu, dass du auf den Fußboden tropfst.« Er nickte, als die Watte im Papierkorb landete, und warf einen Blick auf die Fotokopien. »Also, wo ist jetzt was angemarkert?«
Assad neigte sich gefährlich weit vor und blätterte ein paar Seiten weiter. »Da.« Er deutete auf ein paar rot unterlegte Zeilen.
Carl überflog die Seite. Es ging dort um den Zustand, in dem man Rita Nielsens Mercedes vorgefunden hatte, und Rose hatte die Dinge angestrichen, die im Handschuhfach gelegen hatten: ein Reiseführer für Norditalien, eine Packung Läkerol-Bonbons, eine Packung Papiertaschentücher, zwei Broschüren von Florenz und außerdem noch vier Musikkassetten von Madonna.
Offenbar gehörte Madonna damals nicht zu den Musikrichtungen, die sich im Hehlermilieu Nørrebros absetzen ließen, dachte Carl und sah, dass Rose die Zeile »Kassette mit ›Who's that Girl‹ ohne Inhalt vorgefunden« zusätzlich noch mit Kuli unterstrichen hatte. Witzige Formulierung, dachte er lächelnd. Ohne Inhalt vorgefunden, das lag bei einer Kassette von Madonna ja wohl in der Natur der Sache.
»Jawohl, jawohl«, schnarrte er. »Wahrhaft große Neuigkeiten, Assad. Man fand also eine Madonna-Musikkassette ohne Inhalt. Sollten wir da nicht sofort die Presse informieren?«
Assad sah ihn verständnislos an. »Und hier auf der nächsten Seite steht auch noch was Wichtiges. Ja, die Seiten liegen irgendwie ein bisschen in verkehrter Reihenfolge.«
Er deutete auf weitere Markierungen: Rita Nielsens Verschwinden war am 6. September 1987 telefonisch angezeigt worden. Der Anruf war von einer Lone Rasmussen aus Kolding gekommen, die für Rita Nielsen Telefondienst machte und die Buchungen der Callgirls entgegennahm. Sie hatte sich gewundert, dass Rita Nielsen nicht wie erwartet am Samstag nach Kolding zurückgekehrt war. Dort stand auch noch, dass diese Lone Rasmussen mehrere Prostitutions- und Drogengeschichten auf der Agenda hatte und eine alte Bekannte der Polizei war.
Der Satz, den Rose unterstrichen hatte, lautete: »Lone Rasmussen war sich ganz sicher, dass Rita Nielsen am Sonntag etwas vorhatte, denn dieser Tag und die nächsten Tage waren mit roten Schrägstrichen in ihrem Kalender im Massagesalon markiert, den Lone Rasmussen konsequent als ›Callgirl-Büro‹ bezeichnete.«
»Okay«, sagte Carl mit Betonung auf der letzten Silbe, während er weiterlas. Rita Nielsen hatte also Verabredungen für die Tage nach ihrem Verschwinden gehabt, aber die Ermittler hatten nicht herausfinden können, was genau sich hinter diesen Verabredungen verbarg.
»Ich glaube, Rose versucht gerade, diese Lone Rasmussen aufzutreiben.« Assad klang sehr feucht.
Carl seufzte. Das alles war vor dreiundzwanzig Jahren geschehen. Nach Lone Rasmussens Personennummer zu urteilen, war sie nun Mitte siebzig, ein ziemlich hohes Alter für eine Frau mit einer solchen Vergangenheit. Und falls sie trotz allem doch noch lebte, was sollte sie ihren wenig informativen Aussagen von damals nach so vielen Jahren hinzuzufügen haben?
»Carl, sieh mal hier.« Assad blätterte und deutete dann auf einen Satz, den er mit nasal gedämpften Konsonanten vorlas.
»›Bei der Untersuchung von Rita Nielsens Wohnung am zehnten Tag nach ihrem Verschwinden wird eine Katze vorgefunden, die dermaßen geschwächt ist, dass man sie einschläfern muss.‹«
»Das ist ja übel«, sagte Carl.
»Ja, und hier.« Assad deutete auf eine Stelle ganz unten auf der Seite. »›Keine Funde von Material, die auf ein Verbrechen schließen lassen, oder von persönlichen Papieren, Tagebüchern oder Notizen, die für eine ernste Krise sprechen. Rita Nielsens Wohnung wirkt geordnet, wenn auch etwas unreif eingerichtet, mit reichlich Nippes und ungewöhnlich vielen ausgeschnittenen und eingerahmten Fotos von Madonna. Insgesamt nichts, was die Gedanken auf Selbstmord geschweige denn Mord lenken könnte.‹«
Wieder hatte Rose einen Satz doppelt markiert, den mit den eingerahmten Madonna-Fotos. Carl wischte sich die Nase ab. Fing die jetzt auch an? Nein, das war bestimmt nichts. Verflucht, er konnte heute Abend keine Erkältung
Weitere Kostenlose Bücher