Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
einen Unfall, der Mann sei ertrunken. Ein fröhlicher Mann übrigens, der gern feierte und gern auch mal einen Schnaps zu viel trank. Aber kein Trunkenbolzen.«
»Trunkenbold, Assad. Das heißt Trunkenbold, aber frag mich jetzt nicht, warum. Was haben wir sonst noch?« Er sah auf Roses Kopien und gab sich redlich Mühe, das Unbehagen wegzudrücken, das entstand, als die Kaffeesubstanz sich seinem Magen näherte.
»Dann haben wir noch die hier.« Rose deutete auf den fünften Namen. »Gitte Charles, geboren 1934 in Thorshavn. Tochter des Unternehmers Alistair Charles. Die Firma des Vaters ging direkt nach dem Krieg pleite, woraufhin sich die Eltern scheiden ließen, der Vater zurück nach Aberdeen ging und Gitte, ihre Mutter und der kleine Bruder nach Vejle zogen. Gitte machte eine Ausbildung zur Krankenschwester, die sie aber abbrach, und arbeitete dann in der Nervenheilanstalt in Brejning. Sie hatte noch diverse andere Krankenpflegejobs überall im Land, bevor sie schließlich im Krankenhaus auf Samsø landete.«
Rose nickte langsam, während sie den Text überflog.
»Das Folgende ist ziemlich typisch für Menschen, die eines Tages einfach verschwinden«, sagte sie. »Also: Von 1971 bis 1980 arbeitet sie im Krankenhaus in Tranebjerg auf Samsø und ist dort anscheinend wohlgelitten, obwohl sie ein paar Mal besoffen zur Arbeit kommt. Man unterstützt sie dabei, ihr Alkoholproblem in den Griff zu bekommen, und es geht so lange gut, bis sie eines Tages dabei erwischt wird, wie sie Krankenhausalkohol klaut. Da wird klar, dass sie ihre Sucht in keiner Weise unter Kontrolle hat, und sie wird von einem Tag auf den anderen an die Luft gesetzt. Nach ein paar Monaten bekommt sie Jobs in der häuslichen Pflege, radelt also zu Alten und Kranken auf der Insel und betüddelt sie. Eines Tages kommt heraus, dass sie ihre Schützlinge beklaut. Jetzt wird sie wieder gefeuert. Von 1984 bis zu ihrem Verschwinden ist sie arbeitslos und lebt von Sozialhilfe. Keine Karriere zum Imitieren.«
»Selbstmord?«
»Man nimmt es an. Sie ist gesehen worden, wie sie die Fähre nach Kalundborg bestieg und von Bord ging, das war's. Sie war gut gekleidet, aber keiner redete mit ihr. Und der Fall landete in der Schublade.«
»Dann hängt er wohl auch nicht draußen an unserer Tafel?«
Assad schüttelte den Kopf. »Merkwürdige Welt, in der wir leben«, sagte er.
Wie wahr, wie wahr. Merkwürdig fand Carl übrigens auch, dass sich bei seiner Erkältung eine leichte Besserung einzustellen schien, während seine Gedärme auf Knien um Gnade flehten.
»Sorry, bin gleich wieder da«, konnte er gerade noch murmeln, dann war er unterwegs zur Toilette. Kurze kleine Schritte mit zusammengepressten Arschbacken. Den Mist hatte er nun echt zum letzten Mal getrunken!
Die Hose auf Halbmast und die Stirn auf den Knien saß er auf dem Klo und fragte sich, wie ein Fingerhut Flüssigkeit eine so durchschlagende Wirkung haben konnte.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, an etwas anderes zu denken. Die Fälle hatten sich im Hinterkopf festgesetzt, sie mussten nur hervorgeholt werden. Ein Fischer aus Fünen. Eine Pflegekraft. Eine Prostituierte aus Kolding und ein Anwalt aus Korsør. Wenn diese Fälle zusammenhingen, hieß er Mads. Statistik war schon etwas Sonderbares. Aber natürlich konnte es Vorkommen, dass an ein und demselben Wochenende vier Personen spurlos und unabhängig voneinander verschwanden. Warum denn auch nicht? So war es doch mit Zufällen. Es lag in der Natur der Sache, dass Zufälle dann eintrafen, wenn man am wenigsten damit rechnete.
»Carl, wir haben was gefunden«, schallte es durch die Toilettentür.
»Moment noch, Assad, bin gleich fertig«, brüllte er zurück, obwohl er verflucht noch mal nicht vorhatte, den Donnerbalken zu verlassen, bevor das Bauchkneifen aufgehört hatte. Jetzt bloß kein Risiko.
Carl hörte die Tür zum Gang zufallen, saß eine Weile ruhig da und atmete durch. Die peristaltischen Bewegungen nahmen für eine Weile ab. Wir haben was gefunden, hatte Assad gesagt.
Carl merkte, wie ihm der Kopf rauchte. Er wusste genau, dass irgendwo im Hinterkopf etwas lauerte, etwas, das mit dieser Gitte Charles zu tun hatte, da war er ziemlich sicher. Nur was?
Eine Gemeinsamkeit war ihm bei den vier Fällen nämlich doch aufgefallen, und das war das Alter der Verschwundenen. Rita Nielsen war zweiundfünfzig Jahre alt gewesen. Philip Nørvig zweiundsechzig. Gitte Charles dreiundfünfzig. Viggo Mogensen
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