Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
in jenen drei Tagen ungewöhnlich viele Personen verschwunden, die nie wieder aufgetaucht sind. Stimmt das so, Assad?«
»Ja. Und wir haben sogar noch eine weitere Person gefunden, von der bis heute jede Spur fehlt«, antwortete er. »Wir haben nämlich die Zeitungen einer weiteren Woche angefordert, um ganz sicher zu sein, dass nicht noch etwas anderes los war als das, was auf den Listen stand, die wir von der Polizei bekommen haben.«
Carl kaute noch auf dem vorletzten Satz. »Dann sind wir also bei ... fünf Personen, inklusive Rita, die seither nie wieder aufgetaucht sind? Fünf spurlos verschwundene Menschen in zwei Wochen, stimmt das?«
»Ja. In diesen vierzehn Tagen, auf die wir uns konzentriert haben, wurden fünfundfünfzig Vermisstenanzeigen aufgenommen. Davon waren zehn Monate später fünf Menschen noch immer nicht gefunden. Und das sind sie im Übrigen bis heute nicht, dreiundzwanzig Jahre später.« Rose nickte. »Ich glaube, so viele Vermisste in so wenigen Tagen, das ist fast dänischer Rekord.«
Carl versuchte, die dunklen Ränder unter ihren Augen einzuordnen. War das Müdigkeit? Oder einfach nur verwischte Wimperntusche?
»Lass mich mal sehen.« Er ließ den Finger über die Namen auf ihrer Liste gleiten.
Dann nahm er den Kuli und strich einen der Namen durch. »Die kannst du sicher abhaken«, sagte er und deutete auf das Alter der Frau und die Umstände ihres Verschwindens.
»Ja, die fanden wir eigentlich auch zu alt«, stimmte Assad zu. »Obwohl: Die Schwester meines Vaters ist noch vier Jahre älter, Weihnachten wird sie fünfundachtzig, und trotzdem hackt sie noch jeden Tag Holz.«
So viele Worte für nichts, dachte Carl. »Hör mal, Assad. Diese Frau hier war dement, und sie verschwand aus einem Pflegeheim. Deshalb glaube ich kaum, dass sie noch viel Brennholz gehackt hat. Aber was ist mit den anderen auf der Liste? Habt ihr die schon alle überprüft? Gibt es einen Zusammenhang zwischen deren Verschwinden und dem von Rita Nielsen?«
Da lächelten sie. Und wie sie lächelten.
»Na, nun spuckt's schon aus. Was habt ihr?«
Assad knuffte Rose in die Seite, also hatte sie es entdeckt.
»Philip Nørvig, ein Rechtsanwalt aus der Anwaltskanzlei Nørvig & Sønderskov in Korsør«, sagte sie. »Am Tag vor ihrem wichtigsten Handballmatch teilte Nørvig seiner Tochter mit, dass sie leider mit ihrer Mutter hingehen müsste statt mit ihm. Und das, obwohl Nørvig ihr seit Langem versprochen hatte, auf der Tribüne zu sitzen. Als Entschuldigung gab er nur an, an einem äußerst wichtigen Treffen in Kopenhagen teilnehmen zu müssen, das sich leider nicht verschieben ließe.«
»Und er verschwand?«
»Ja. Er fuhr am selben Morgen mit dem Zug von Halsskov los und muss gegen halb eins am Hauptbahnhof gewesen sein, und das war's. Wie vom Erdboden verschluckt.«
»Hat ihn irgendjemand aussteigen sehen?«
»Ja. Da waren zwei, die mit dem Zug aus Korsør kamen, die haben ihn wiedererkannt. Er hatte geschäftlich viel in Korsør zu tun, sodass ihn dort in der Gegend etliche Leute kannten.«
»Ah, nun beginnt es zu dämmern«, sagte Carl und ignorierte seine triefende Nase. »Ein prominenter Anwalt aus Korsør, der von einem Tag auf den anderen verschwand. Ja, über den Fall war damals recht viel zu lesen. Hat man ihn nicht später in einem der Kopenhagener Kanäle gefunden?«
»Nein, er blieb verschwunden«, sagte Assad. »Das musst du verwechseln.«
»Hing dieser Fall nicht schon an unserer Anschlagtafel, Assad?«
Assad nickte. Dann war er garantiert schon durch eine blaue Schnur mit dem Fall Rita Nielsen verbunden.
»Rose, du hast etwas zu dem Fall in deinen Papieren, sehe ich. Was steht da über diesen Nørvig?«
»Dass er Jahrgang 1925 ist.« Mehr konnte sie nicht sagen, da fiel ihr Carl ins Wort.
»1925, verdammt! Dann muss er 1987 zweiundsechzig gewesen sein. Ziemlich alter Vater für eine Handball spielende Teenagertochter!«
»Hör doch erst mal bis zum Ende zu, bevor du mich unterbrichst, Carl!«, schimpfte Rose und blinzelte müde. »Also, er war Jahrgang 1925«, wiederholte sie. »Legte 1950 sein juristisches Staatsexamen in Århus ab. 1950 bis 1954 Assessor bei Laursen & Bonde in Vallensbæk. 1954 niedergelassener Rechtsanwalt in Korsør. 1965 Zulassung zum Landgericht. 1950 Heirat mit Sara Julie Enevoldsen, Scheidung 1973. Zwei Kinder aus dieser Ehe. 1974 heiratet er seine Sekretärin Mie Hansen. Sie haben eine gemeinsame Tochter, Cecilie, geboren im selben Jahr.«
An der
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