Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung

Titel: Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
Vom Netzwerk:
schweigend anhörte und in ihrem Namen Besserung gelobte. Doch ja, er wolle sie schon lehren, Gott zu fürchten und darauf zu achten, welche Wörter sie in den Mund nahm. Und ja, er werde schon dafür sorgen, dass sich ihr zügelloses Benehmen bessere.
    Was Nete nie begriff, war, wieso er selbst völlig ungeniert und ungestraft fluchen durfte. Und wieso es verkehrt war, über Männer und Weiber zu sprechen, wenn doch auf dem Hof ständig die Rede davon war.
    »Sie sagen, dass du dumm bist, dass deine Sprache schweinisch ist und dass du alle in deiner Umgebung verdirbst«, klagte ihr Vater. »Sie haben dich aus der Schule rausgeworfen und ich muss stattdessen teures Geld für eine Privatlehrerin zahlen. Wenn du wenigstens lesen gelernt hättest, aber nicht mal das kannst du. Die Leute sehen mich mit Verachtung an. Ich bin der Bauer mit der Tochter, die Schande übers Dorf bringt. Der Pfarrer, die Schule, alle haben sich von dir abgewandt und damit auch von mir. Du bist nicht konfirmiert und jetzt bist du obendrein auch noch schwanger und behauptest, das sei dein Cousin gewesen.«
    »Das war er auch. Wir beide waren's.«
    »Ach, erzähl mir doch nichts, Nete! Tage sagt, er hätte nichts mit dir zu tun gehabt. Also, wer war es?«
    »Tage und ich, wir beide.«
    »Knie dich hin, Nete.«
    »Ja, aber ...«
    »Auf die Knie!«
    Sie tat, was er sagte, und sah, wie er schweren Schrittes zum Tisch ging und die Tüte nahm.
    »Hier!« Er streute Reiskörner vor ihr auf den Boden, etwa einen Becher voll. »Iss!«
    Dann stellte er eine Kanne Wasser daneben. »Und trink!«
    Sie sah sich um. Sah hinüber zum Foto der Mutter, die dort mager und lächelnd in ihrem Brautkleid abgebildet war, sah zu dem Glasschrank mit den Tellern und zur Wanduhr, die schon lange stehen geblieben war. Nichts in diesem Zimmer tröstete sie, nichts zeigte ihr einen Ausweg.
    »Sag, mit wem du gevögelt hast, Nete, oder iss.«
    »Mit Tage. Nur mit ihm.«
    »Da!«, schrie ihr Vater und stopfte ihr mit zitternden Händen die ersten Reiskörner in den Mund.
    Der Reis blieb ihr im Hals stecken und pikte, obwohl sie trank, so viel sie konnte. Und wenn sie schluckte, pikten die Körner noch mehr. Diese elendig spitzen, scharfen Körnchen, die sich wie ein Zuckerhut auf dem Fußboden aufhäuften.
    Als ihr Vater sein Gesicht weinend in den Händen vergrub und sie anflehte, ihm doch endlich zu verraten, wer sie geschwängert habe, da sprang sie so heftig auf, dass der Wasserkrug umfiel und zerbrach. Vier Schritte zur Halbtür, und sie war draußen. Und draußen im Freien war sie sicher, denn sie war so schnell, leichtfüßig und ortskundig wie kaum jemand.
    Eine Weile noch hörte sie ihren Vater hinter sich rufen, hörte seine Schritte, aber das hielt sie nicht auf. Was sie aufhielt, war der Schmerz im Zwerchfell, als die Reiskörner anfingen, Magensäure und Flüssigkeit aufzusaugen, und der Magen anschwoll. Da musste sie den Kopf in den Nacken legen und nach Luft schnappen.
    »Es war Taaage!«, schrie sie über das Schilf und den Mühlbach, der an ihr vorbeifloss. Und dann fiel sie auf die Knie und presste ihre Fäuste so fest sie nur konnte auf den Unterleib. Ein wenig Linderung brachte das, aber der Magen schwoll weiter an, und es half auch nichts, dass sie den Finger in den Hals steckte.
    »Es war Tage, Mutter, sag Vater, dass es Tage war!«, weinte sie und wandte die Augen zum Himmel. Aber nicht der Blick ihrer Mutter ruhte auf ihr, sondern der von fünf Jungen mit Angelruten.
    »Das ist sie, Schwanz-Nete«, rief einer der Jungen.
    »Schwanz-Nete, Schwanz-Nete«, fielen die anderen ein.
    Sie schloss die Augen. Alles fühlte sich so falsch an. Im Zwerchfell und im Unterleib. Stellen, von denen sie bisher nicht einmal geahnt hatte, dass sie in ihrem Körper existierten, taten schrecklich weh. Zum ersten Mal spürte sie das Pochen hinter dem Auge und am Schädel entlang, roch sie ihren eigenen Schweiß. Und alles in ihr wollte die Schmerzen wegschreien und den Körper wieder heil machen.
    Aber sie konnte nicht schreien, und antworten konnte sie auch nicht, als die Jungen fragten, ob sie das Kleid nicht mal anheben könne, damit sie ein bisschen mehr sehen könnten.
    Sie hörte die Hoffnung hinter dieser Aufforderung sehr wohl heraus. Die Kerle zeigten für einen Moment, was sie waren: nichts weiter als ein paar dumme, unwissende kleine Jungen, Konfirmanden, die immer brav getan hatten, was ihre Väter von ihnen verlangt hatten. Und als sie nicht antwortete, wurden

Weitere Kostenlose Bücher