Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Untermenschen betrachtete, sie drangsalierte und Tag und Nacht bewachte. Es gab Strafzellen, die zum Einsatz kamen, wenn die ›Mädchen‹, wie die Insassinnen genannt wurden, nicht spurten. Tagelange Isolation. Und wenn so ein Mädchen sich irgendwann Hoffnung machen konnte, von der Scheißinsel runterzukommen, musste es davon ausgehen, erst noch sterilisiert zu werden. Zwangssterilisiert! Carl, man hat ihnen ihr Sexualleben und ihre Geschlechtsteile genommen!« Rose warf den Kopf zur Seite und trat gegen die Wand. »Herrgott noch mal, was für eine verdammte Gemeinheit!«
»Rose, bist du okay?« Assad legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Arm.
»Das ist einfach der übelste Machtmissbrauch, den man sich vorstellen kann!«, ereiferte sie sich mit einem Gesichtsausdruck, wie ihn Carl noch nie bei ihr gesehen hatte. »Dazu verurteilt zu sein, auf einer einsamen Insel vor sich hin zu rotten! Wir Dänen sind keinen Deut besser als die, über die wir uns gerne empören«, fauchte sie. »Wir sind genau wie die, die untreue Frauen steinigen, oder wie die Nazis, die Geisteskranke und Schwerbehinderte umbrachten. Kann man die Einrichtung auf Sprogø mit den angeblichen Nervenheilanstalten für Dissidenten in der Sowjetunion vergleichen oder mit den sogenannten ›Kinder-Gulags‹ in Rumänien? Ja, und ob man das kann! Wir sind nicht einen Deut besser!«
Damit drehte sie sich um und verschwand in Richtung Toiletten. Also waren die Probleme mit dem Magen doch noch nicht ganz überstanden.
»Puh«, stöhnte Carl.
»Ja, heute Nacht war sie auch schon so aufgebracht«, flüsterte Assad, der wohl nicht das Risiko eingehen wollte, dass Rose ihn hörte. »Ich finde ja, sie lässt sich von der ganzen Sache ein bisschen zu sehr mitnehmen. Wenn sie uns bloß nicht demnächst wieder Yrsa vorbeischickt.«
Carl kniff die Augen zusammen. Der Verdacht war ihm schon vorher gelegentlich gekommen, und jetzt beschlich er ihn erneut. »Glaubst du, Rose hat selbst so eine Behandlung erlebt, Assad? Willst du das damit andeuten?«
Sein Kollege zuckte die Achseln. »Ich sag nur, dass es in ihr irgendetwas gibt, das wie ein Stein im Schuh scheuert.«
Carl betrachtete das Telefon eine Weile, dann nahm er den Hörer und gab Ronnys Nummer ein.
Als es lange genug geklingelt hatte, legte er auf, wartete zwanzig Sekunden und rief erneut an.
»Hallo?«, ließ sich eine müde Stimme vernehmen, abgestumpft vom Alter, vom Alkohol und unorthodoxen Schlafenszeiten.
»Tach, Ronny.« Mehr sagte Carl nicht.
Keine Reaktion.
»Hier ist Carl.«
Immer noch nichts.
Dann redete Carl etwas lauter und danach noch ein bisschen lauter. Im Gegenzug war schließlich eine gewisse Aktivität zu vernehmen, die man wahlweise als Schnarchen oder als Raucherhusten deuten konnte.
»Wer ist noch mal dran?«
»Carl, dein Cousin. Tach, Ronny.«
Eine weitere Hustenattacke. »Um was für eine Zeit rufst du denn an? Wie spät ist es?«
Carl sah auf die Uhr. »Viertel nach neun.«
»Viertel nach neun! Bist du wahnsinnig, Mann! Ich hab seit zehn Jahren nichts von dir gehört, und dann rufst du um Viertel nach neun an!«, brüllte er und knallte den Hörer auf.
Es gab eben doch nichts Neues unter der Sonne. Carl sah ihn förmlich vor sich: nackt bis auf die Socken, die er nie auszog; mit ungewöhnlich langen Nägeln und schlecht verteilten Bartstoppeln; ein großer dicker Mann, der sich am wohlsten im Halbdunkel fühlte, mit der Sonne auf Sparflamme, egal, wo auf der Welt er sich befand. Falls er wirklich gern nach Thailand fuhr, dann sicher nicht wegen des Teints.
Carl ließ mehr als zehn Minuten verstreichen, ehe er wieder anrief.
»Was ist das für eine Telefonnummer, Carl? Von wo aus rufst du an?«
»Aus meinem Büro im Polizeipräsidium.«
»Pfui Teufel.«
»Mir sind Sachen über dich zu Ohren gekommen, Ronny, wir müssen mal reden. Okay?«
»Was ist dir zu Ohren gekommen?«
»Dass du in zweifelhaften Bars am anderen Ende der Welt Sachen über den Tod deines Vaters erzählst und mich gleich mit einbeziehst.«
»Wer verdammt noch mal sagt denn so was?«
»Ein Polizeikollege.«
»Dann ist der nicht ganz richtig im Kopf.«
»Kannst du herkommen?«
»Ins Präsidium? Du hast sie ja wohl nicht alle. Bist du senil geworden, oder was? Nein, wenn wir uns treffen, dann muss sich der Aufwand schon lohnen.«
In einer Sekunde würde er etwas vorschlagen, das Geld kostete. Etwas, das Carl bezahlen sollte und das sich trinken ließ.
»Du kannst in der Tivolihalle
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