Carlottas Kerker
führender Tunnel lag. Ich schaute ebenfalls hin, nur Baring ging bis zu einer bestimmten Stelle an der Wand, wo er stehen blieb.
Er sagte noch nichts und ließ uns weiter schauen. Die Trittstufen an der Seite waren nicht zu übersehen. Man konnte tatsächlich von hier aus in das Haus gelangen, falls es dort eine Öffnung gab.
»Wie kommen wir da hoch, Mr. Baring?«
»Das ist kein Problem.« Er wechselte seinen Standort, trat an eine dunkle Stelle, räumte bückend einige Steine zur Seite und kehrte mit einer Strickleiter zurück, an deren Ende zwei Fanghaken angebracht waren.
»Ha, was ist das?«
»Eine Strickleiter, Mr. Sinclair.«
»Das sehe ich. Aber wie kommen Sie...?«
»Sie gehört nicht mir«, erklärte er. »Ich habe sie damals hier gefunden. Egal, uns kommt sie zugute.«
Suko leuchtete sie an. Ihn interessierte dabei besonders das Metall der Haken. »Da ist kaum Rost zu sehen.«
»Sie wird halten«, sagte ich.
»Wer will es versuchen?«, fragte Baring.
Suko entschied sich dafür. Er nahm die Leiter und stellte sich unter die letzte Stufe des Schachtes.
Weder Suko noch ich waren Künstler, die mit einer Strickleiter umgehen konnten, und so schaffte es mein Freund erst beim fünften Versuch, dass sich die beiden Haken an einer Sprosse festklemmten. Der Rest hing nach unten und endete dicht über dem Boden.
»Ich werde sie halten, wenn Sie klettern«, erklärte Ed Baring.
»Danke.« Suko lächelte ihm zu. »Ich habe geworfen und werde auch den Anfang machen.«
Er wartete nicht länger. Auch ich hielt noch die Leiter mit fest. Wir zogen sie so straff wie möglich, damit sie nicht zu sehr schwankte, und Suko kletterte die Sprossen aus Holz hoch, als hätte er nichts anderes in seinem Leben getan.
Es lag noch nicht lange zurück, da waren wir über eine Strickleiter an Bord eines Schiffes geklettert und hatten dort die schwarzen Skelette, die Diener des Schwarzen Tods, entdeckt. Das war zugleich der Anfang vom Ende seines zweiten Daseins gewesen.
Mein Freund rutschte nicht ein einziges Mal ab. Er kletterte danach einige der Eisensprossen hoch, und als ich ihn von unten anleuchtete, da sah ich sein Nicken.
»Sie werden wohl halten.«
»Okay, dann komm ich jetzt nach.«
Die Leuchte schaltete ich aus und steckte sie weg. Auch diesmal wurde die Leiter festgehalten, aber zwei Hände schafften das nicht so straff wie vier. Ich schwankte, aber ich rutschte nicht ab.
Trotzdem war ich froh, die festeren Trittstufen zu erreichen.
Von dort schaute ich nach unten.
Ed Baring stand noch an derselben Stelle wie eben. Er schaute zu uns hoch, aber er hatte seine Haltung verändert.
Mit beiden Händen hielt er eine Waffe fest!
Und er zielte damit schräg in die Höhe!
Es gab wirklich nicht viel Licht, aber verfehlen konnte er uns nicht.
»Ihr glaubt doch nicht, dass ich zulasse, dass ihr meine Carlotta holt. Nein, sie gehört mir, und das wird auch immer so bleiben...«
***
Die Staatsanwältin bekam von der Fahrt so gut wie nichts mit. Sie war einfach zu sehr mit sich und ihren Schmerzen beschäftigt gewesen. Wie ein Klotz hockte Lucas Crane neben ihr und beobachtete sie von der Seite her.
Ihre gefesselten Hände lagen im Schoß zusammen. Purdy Prentiss schaute nur nach vorn. Einen Blick aus dem Fenster zu werfen lohnte sich nicht, denn der Nebel hielt die Welt mit seinem grauen dichten Netz umfangen.
Die Atmung hatte sich wieder normalisiert, auch wenn der Hals innen und außen noch schmerzte. Besonders außen, wo die verdammte Seidenschlinge tief in die Haut geschnitten war und diese dünne Wunde hinterlassen hatte.
Das Blut war nach unten geronnen und hatte als dünne Fäden die Ansätze der Brüste erreicht.
Purdy hob die beiden gefesselten Hände an und tastete nach der Wunde.
Lucas Crane sah es und grinste nur.
Das Blut war an den Rändern getrocknet. Wenigstens etwas. Sie hoffte, dass sich die Wunde bald schließen würde, aber würde sie das noch erleben?
Sie glaubte nicht daran, dass man sie als Zeugin lebend aus dieser Hölle entkommen lassen wollte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Hoffnungen auf Suko und John Sinclair zu setzen.
Der Bremsvorgang beendete ihre Gedanken. Sie ruckte dabei nach vorn und hörte neben sich das leise Lachen. Danach wurde sie angesprochen.
»Weißt du, wohin wir dich jetzt bringen? In unser Haus. In unser wunderschönes Haus. Aber für dich ist es nicht nur ein Haus, es ist zugleich auch ein riesiger Sarg, aus dem du nicht mehr rauskommst.«
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