Caroline
ging?«, fragte ich tonlos.
»Ich habe nie geglaubt, dass Bertus das Mädchen ermordet hat.«
»Das Gericht hat ihn schuldig gesprochen und verurteilt«, wandte ich ein.
Sie nickte eine Weile vor sich hin. »Die beiden waren unzertrennlich. Wann immer Denise keinen Pflichten nachkommen musste, ging sie zu Bertus. Sie half ihm im Garten und mit den Tieren. Ich habe beobachtet, wie sie Hand in Hand gingen. Das war so seit ihrem sechzehnten Lebensjahr. Denise war geistig behindert, aber ich habe deutlich gesehen, wie sie auflebte, sobald sie in Bertus’ Nähe war.«
»Romeo und Julia.« Der Spott in meiner Stimme trug mir einen bösen Blick von Nel ein.
Auch Helga regte sich darüber auf und sagte wütend: »Genauso war es! Und selbst wenn sie manchmal miteinander geschlafen haben, war es nichts Schmutziges. Deshalb habe ich ihn besucht. Der Junge tut mir leid, aber er weigerte sich, mit mir darüber zu reden. Ihre Liebe war süß, aber im Munde dieses Pfarrers wurde sie zu etwas Schmutzigem und Teuflischem.« Sie kramte in ihrer Tasche herum und holte eine alte, zusammengefaltete Zeitung hervor. »Ich habe hier ein Interview mit ihm, kurz nach der Gerichtsverhandlung.«
»Mit Schamhart?«
Sie nickte. »So ein frommer Ekeltyp mit feuchten Händen.«
»Aber Sie haben nicht dagegen protestiert«, bemerkte ich mitleidlos.
»Nein.« Sie wurde nicht böse, schaute mich aber traurig an. »Bei Gericht glaubte man alles, was er sagte. Domie würde es schon wissen.«
Die Welt um mich herum blieb stehen. Das Wort dröhnte mir in den Ohren und verdrängte das verdomme von seinem Platz, das ich in der letzten Sekunde zu hören geglaubt hatte, bevor Bertus die Flucht ergriff. Der Bertus mit der Kinderbibel und den frommen Sprüchen konnte wahrscheinlich nicht einmal fluchen.
»Domie?«
Helga schaute mich verwundert an. »Ja, so nennen wir in Drenthe den Pfarrer, den dominee.«
»Wir in Groningen auch«, erklärte Nel. Sie nahm Helga den Zeitungsausschnitt aus der Hand und faltete ihn auseinander. Ich erkannte eine Überschrift: Die Reue des Gottesdieners, und sah, wie Nel erbleichte, während sie das darunter abgedruckte Foto anstarrte. Sie gab mir die Zeitung. Ein Blick auf das Foto von dominee Sibolt Schamhart genügte, um zu wissen, wohin Bertus unterwegs war.
Wir rasten ohne Unterbrechung am Hondsrug und den Hünengräbern vorbei in Richtung Borger. Nel sagte nichts, wurde aber nervös, sobald uns nur ein Lkw oder ein Wohnwagen aufhielt. Wir sausten an Drenther Bauernhöfen und Autos vorbei, während ich eine Gauloise nach der anderen rauchte. Nel hatte mich mit ihrer Panik angesichts der dramatischen Entwicklungen angesteckt.
Die Zeit drängte. In einem weiteren Drenther Angerdorf, zwanzig Kilometer entfernt, drohten Vergangenheit und Gegenwart aufeinander zu prallen. Bertus Tons, Caroline und dieser verdammte Domie, der möglicherweise ihr Vater war. Aber wie hatte Caroline ihn gefunden, wenn nicht über Bertus?
Er wohnte in einer Art altengerechten Wohnung im Neubauviertel von Borger. Eine alte Frau öffnete die Tür. »Guten Tag, Mevrouw, ist der Pfarrer zu Hause?«
»Nein. Domie ist im Ruhestand, aber er schreibt Traktate und Predigten für seine Kollegen und ist in die Kirche gegangen, um sich anzuhören, wie sie klingen. Das tut er oft.«
Die Kirche stand auf einer gepflasterten Warft, umringt von alten Buchen, die über das Dach hinausragten. Das Krächzen und Kreischen hunderter von Krähen lag in der Luft; ihre Nester wucherten wie schwarze Parasiten in den hohen Baumwipfeln und die Pflastersteine rund um die Kirche waren weiß von ihrem Kot. Direkt unterhalb der Warft lag ein modernes niedriges Gebäude, in dem sich eine Polizeiwache befand. Ein uniformierter Polizist stand davor und unterhielt sich mit einer jungen Frau. Ich sah, wie er in unsere Richtung blickte, als wir zur Kirche gingen.
Die Kirchentür war angelehnt, und noch bevor wir sie aufdrückten, erkannte ich Bertus’ klagende Stimme, irgendwo über uns. »Warum hast du das getan? Warum? Meine Denise! Warum musste sie totgehen?«
Ein voller Bariton, wie für die Kanzel geschaffen, aber ätzend und voller Verachtung: »Denise war eine Hure, genau wie alle anderen. Was willst du hier, du blöder Schwachkopf?«
Bertus fing verwirrt und frustriert an zu jammern: »Nein! Das stimmt nicht! Domie, du sollst nicht lügen! Du hast das gemacht! Guck mal!«
Nel flüsterte: »O mein Gott …« Sie wandte sich zu der Holzwendeltreppe, die direkt
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