Caroline
neben uns hinauf zum Chor führte, doch ich hielt sie zurück, während oben einen Augenblick lang Totenstille herrschte. Dann hörten wir wieder den Pfarrer, diesmal mit gedämpfterer Stimme: »Wer ist das? Warum gehst du mir damit auf die Nerven?«
»Du hast sie ermordet! Denise!«, rief Bertus. »Das sage ich!«
Der Bariton zischte: »Dachtest du vielleicht, ein Mann Gottes ginge hinter Gitter, wo es doch dich gibt?«
Zwei Sekunden lang herrschte tödliche Stille, in denen sie einander anschauten oder umklammerten. Dann hörte man stolpernde Schritte, einen erstickten Schrei und ein Krachen. Nel schrie, als das Holzgeländer brach und ein Körper hinunterfiel. Auch ich hörte mich schreien: Bertus!
Direkt vor unseren Augen stürzte er mit flatternden Gliedmaßen auf die Eichenholzlehne der hintersten Kirchenbank, und dann folgte der Übelkeit erregende Schlag, mit dem sein Schädel wie eine Eierschale auf den alten Steinen des Mittelganges zerbarst.
Hinter uns flog die Kirchentür auf und der Polizist versuchte mich beiseite zu drängen: »Was ist hier los?« Doch Nel war schon nach vorn gerannt und ich hielt den Beamten zurück, der wie gelähmt stehen blieb, während Nel sämtliche Vorschriften in den Wind schlug und sich, ohne zu zögern, in die Blutpfütze um Bertus’ Kopf kniete.
Sie nahm seinen Kopf in beide Hände. Er war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, das Gesicht blutüberströmt, der Mund ein klaffendes Loch, die Augen zum hereinfallenden Licht unter dem Kirchendach gewandt, das schwärzer wurde, als das Leben aus ihm herausfloss. Sie beugte sich dicht hinunter zu seinem Gesicht und flüsterte: »Bertus! Du gehst zu ihr. Du gehst zu Denise!«
Die Frau, die mit dem Polizisten gesprochen hatte, erschien im Eingang, stieß einen Schrei aus und verschwand wieder. Ich ließ den Polizisten los und ging zu Nel. Ich berührte ihre Schulter und nahm das Foto aus Bertus’ Hand. Es war mit seinem Blut verschmiert. Der Pfarrer kam die Wendeltreppe hinuntergepoltert, ein kleiner Mann, fast kahl, das Gesicht weiß wie Papier. Er schaute uns verwirrt an, als wundere er sich darüber, dass Leute in der Kirche waren. Er sagte nichts, setzte jedoch einen Ausdruck frommen Entsetzens auf. Ein Blick auf dieses hässliche Gesicht genügte, um zu begreifen, was Bertus erkannt hatte.
»Nehmen Sie diesen Mann fest, er ist ein Mörder«, sagte ich zu dem Polizisten.
Der Beamte schaute den Pfarrer an und fragte in einem Ton, als wäre ich wahnsinnig geworden: »Dominee Schamhart? Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Ich reichte ihm meinen Meulendijk-Ausweis und ging zur Tür, um eine mögliche Flucht des Pfarrers zu verhindern.
Schamhart wurde prompt ausfallend. »Wovon reden Sie überhaupt? Dieser Mann hier hat wegen Mordes an einer Bewohnerin des Heims, in dem ich früher als Seelsorger tätig war, im Gefängnis gesessen. Er ist auf Bewährung draußen. Die arme Seele war völlig verwirrt, er hat mir hier aufgelauert und mich mit irgendwelchen Wahnvorstellungen belästigt. Er wollte mich angreifen und ist gestolpert. Es war ein Unfall. Ist er tot? Gott sei seiner armen Seele gnädig.«
Nel trat neben mich, ihre Jeans an den Knien durchweicht, mit Blut an den Händen.
Sie blieb bebend vor Schamhart stehen und sagte: »Sie sollten sich zutiefst schämen. Für Sie ist keine Hölle schlimm genug.«
Der Pfarrer starrte ihr entgeistert nach, als sie die Kirche verließ. Er wandte sich an den Polizisten. »Ich weiß wirklich nicht, wovon die redet. Wer ist diese Frau?«
»Der Hahn kräht bestimmt noch ein paar Mal«, sagte ich und hielt ihm das Foto von Caroline hin. »Ich rede nicht nur von Bertus Tons, sondern von Vergewaltigung und Mord im Roekenhof. Dank des genetischen Fingerabdrucks kann man das notfalls noch nach hundert Jahren beweisen.«
Ein zweiter Polizist in Uniform betrat die Kirche, zusammen mit einem Mann in Zivil. »Der Rettungswagen ist unterwegs«, sagte der Zivilbeamte. »Was ist denn hier passiert? Mein Gott!« Rasch lief er an uns vorbei zu der Leiche und legte überflüssigerweise seinen Finger an Bertus’ Hals.
Der erste Beamte war ein nüchterner Drenther. Er war leichenblass, hatte sich aber wieder unter Kontrolle. Er gab mir meinen Ausweis zurück und sagte: »Vielleicht sollten wir doch mal kurz nach nebenan gehen, Dominee, um die Sache zu klären.«
»Natürlich«, antwortete Schamhart mit sichtlicher Mühe. »Ich will Ihnen den Sachverhalt gern erklären, es ist nicht mehr als
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