Carre, John le
welche zu jenen
geschlossenen Lieferwagen gehörten, wie Observanten sie gern benutzten. Es war
zum Teil ein Gedächtnistest, zum Teil ein privates Spiel, um seine Wachsamkeit
vor dem Verkümmern im Ruhestand zu bewahren, genau wie er unlängst die Namen
der Geschäfte an seiner Busstrecke zum Britischen Museum auswendig gelernt
hatte; genau wie er wußte, wie viele Stufen jeder Treppenabsatz in seinem Haus
zählte und in welche Richtung sich jede der zwölf Türen öffnete.
Aber
Smiley hatte noch einen anderen Grund, und der war Furcht, die geheime Furcht,
die jeden Professionellen bis ins Grab verfolgt. Daß nämlich eines Tages, aus
dem Dschungel einer Vergangenheit, in der er sich mehr Feinde gemacht haben
mochte, als er selber noch wußte, einer von ihnen ihn finden und Abrechnung
halten würde.
Am Ende
der Straße führte eine Nachbarin ihren Hund spazieren; als sie ihn sah, hob sie
den Kopf und wollte etwas sagen, aber er tat, als sähe er sie nicht, denn er
wußte, sie würde von Ann anfangen. Er überquerte die Straße. Sein Haus lag im
Dunkeln, die Gardinen waren so, wie er sie zurückgelassen hatte. Er stieg die
sechs Stufen zur Vordertür hinauf. Seit Anns Abreise hatte ihn auch seine
Putzfrau verlassen: niemand außer Ann hatte einen Schlüssel. An der Tür waren
zwei Schlösser, ein Riegelschloß und ein Chubb-Schloß, und zwei Splinte seiner
eigenen Herstellung, daumennagelgroße Stückchen Eichenholz, über- und
unterhalb des Riegelschlosses in die Tür geklemmt. Ein Überbleibsel aus seiner
Zeit im Außendienst. In letzter Zeit pflegte er, ohne zu wissen warum, diese
Holzsplinte wieder einzuklemmen; vielleicht wollte er nicht, daß Ann ihn
überraschte. Mit den Fingerspitzen stellte er fest, daß beide an ihrem Platz
waren. Nach dieser Routineprüfung schloß er die Tür auf, schob sie nach innen
und spürte, wie die Mittagspost über den Teppich rutschte. Was war heute
fällig, fragte er sich. German Life and Letters?
Philologie? Philologie war fällig, entschied er. Er knipste das Licht
in der Diele an, bückte sich und warf einen Blick auf seine Post. Eine
»beiliegende Rechnung« von seinem Schneider für einen Anzug, den er nicht
bestellt hatte und der, wie er vermutete, im Moment Anns Liebhaber zur Zier
gereichte; eine Rechnung von einer Garage in Henley für ihr Benzin - was hatten
sie bloß in Henley zu suchen, abgebrannt, am neunten Oktober? - ein Brief von
der Bank betreffs einer Vollmacht für Barabhebungen bei einer Zweigstelle der
Midland Bank in Immingham, zugunsten von Lady Ann Smiley.
Und was
zum Teufel tun sie in Immingham? begehrte er von diesem Schriftstück zu
wissen. Wer um Gottes willen hatte je eine Affäre in Immingham gehabt? Wo war überhaupt
dieses Immingham?
Er sann
noch immer über diese Frage nach, als sein Blick auf einen unbekannten
Regenschirm im Ständer fiel, einen seidenen mit handgenähtem Ledergriff und
einem goldenen Ring ohne Initialen. Und mit einer Schnelligkeit jenseits jeder
meßbaren Zeit durchfuhr ihn der Gedanke, daß dieser Schirm trocken war und
daher vor sechs Uhr fünfzehn hierhergekommen sein mußte, vor Einsetzen des
Regens, denn auch im Schirmständer war keine Nässe. Auch daß es ein sehr
eleganter Schirm war und die Zwinge kaum verkratzt, obwohl er nicht neu war.
Und daß der Schirm folglich einem agilen Mann gehören mußte, sogar einem jungen
wie Anns derzeitigem Galan. Daß aber sein Besitzer höchst wahrscheinlich auch
Smiley kennen mußte, denn er hatte von den Holzsplinten gewußt und sie auch
wieder angebracht, sobald er im Haus war, und war so schlau gewesen, die
Briefe, nachdem er sie zusammengeschoben und zweifellos auch gelesen hatte,
wieder hinter die Tür zu legen; und daß er kein Liebhaber war, sondern ein
Profi wie er selber, der irgendwann einmal mit ihm zusammengearbeitet hatte und
seine Handschrift, wie es im Fachjargon heißt, genau kannte.
Die
Wohnzimmertür stand einen Spalt offen. Leise schob Smiley sie weiter auf.
»Peter?« sagte er.
Durch die
Türöffnung sah er zwei schwarze Schuhe bequem übereinandergeschlagen über das
Sofaende ragen. »Ich an deiner Stelle würde den Mantel anbehalten, George,
alter Junge«, sagte eine liebenswürdige Stimme. »Wir haben einen langen Weg vor
uns.«
Fünf
Minuten später saß George Smiley, angetan mit einem weiten braunen Reisemantel,
einem Geschenk Anns und seinem einzigen trockenen Stück, erbost auf dem
Beifahrersitz von Peter Guillams ungemein zugigem Sportwagen,
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