Carte Blanche - Ein Bond-Roman
.«
»Mein Gott, nein. So habe ich das nicht gemeint.«
»Ich weiß. Aber Severan meint es so – denn für ihn bin auch ich ein Teil der Abwärtsspirale. Ich bin sein Versuchsobjekt für das Verwelken, das Altern, den Verfall. Das ist alles, was er in mir sieht. Er spricht so gut wie nie mit mir. Ich weiß praktisch nicht, was in seinem Kopf vorgeht, und er hat keinerlei Interesse daran, sich mit mir als Mensch zu beschäftigen. Er gibt mir Kreditkarten, führt mich hübsch aus, sorgt für mich. Im Gegenzug … sieht er mir beim Altern zu. Ich ertappe ihn oft dabei, wie er mich anstarrt: eine neue Falte hier, ein Altersfleck da. Deshalb darf ich kein Make-up tragen. Er lässt das Licht an, wenn … Sie wissen schon. Können Sie sich vorstellen, wie erniedrigend das für mich ist? Und er macht das ganz bewusst. Denn auch Demütigung zieht Niedergang nach sich.«
Sie lachte verbittert auf und tupfte sich die Augen mit dem Taschentuch ab. »Und wissen Sie, was die Ironie dabei ist, Gene? Die gottverdammte Ironie? Als ich noch jung war, habe ich nur für die Schönheitswettbewerbe gelebt. Es hat niemanden gekümmert, wer ich im Innern war, nicht die Preisrichter, nicht die anderen Mädchen … nicht mal meine Mutter. Nun bin ich alt, und auch Severan kümmert es nicht, wer ich im Innern bin. Manchmal hasse ich es, mit ihm zusammen zu sein. Doch was soll ich tun? Ich bin machtlos.«
Bond drückte ihren Arm ein wenig fester. »Das ist nicht wahr. Sie sind keineswegs machtlos. Älter zu sein, bedeutet Stärke. Es bedeutet Erfahrung, Weisheit, Scharfsinn, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Jugend bedeutet Irrtum und Impulsivität. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«
»Aber was sollte ich ohne ihn machen? Wohin sollte ich gehen?«
»Wohin Sie wollen. Und Sie könnten auch tun, was Sie wollen. Sie sind klug. Bestimmt besitzen Sie etwas Geld.«
»Etwas. Aber es geht nicht ums Geld. Es geht darum, jemanden in meinem Alter zu finden.«
»Warum brauchen Sie jemanden?«
»Das kann nur ein junger Mann fragen.«
»Und das klingt nach einer Frau, die sich von anderen etwas einreden lässt, anstatt eigenständig zu denken.«
Jessica lächelte matt. » Touché , Gene.« Sie tätschelte seine Hand. »Sie sind sehr nett zu mir, und ich kann nicht glauben, dass ich vor einem völlig Fremden dermaßen die Fassung verloren habe. Bitte, ich muss jetzt reingehen. Bald kommt ein Kontrollanruf von ihm.« Sie deutete auf das Haus.
Bond fuhr bis zum Tor vor, wo ein aufmerksamer Wachmann stand – was seinen Plan durchkreuzte, sie ins Haus zu begleiten und sich dort umzusehen.
Jessica umschloss mit beiden Händen seine Hand und stieg dann aus.
»Sehen wir uns morgen?«, fragte er. »Auf dem Firmengelände?«
Ein schwaches Lächeln. »Ja, ich werde dort sein. Er hält mich an einer ziemlich kurzen Leine.« Sie drehte sich um und ging mit schnellen Schritten durch das Tor.
Bond schaltete in den ersten Gang und gab Gas. Jessica Barnes war im selben Moment aus seinen Gedanken verschwunden. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das nächste Ziel und darauf, was ihn dort erwarten würde.
Freund oder Feind?
James Bond hatte gelernt, dass diese beiden Kategorien sich in seinem Beruf nicht notwendigerweise gegenseitig ausschlossen.
49
Schon den ganzen Donnerstag wurde hier über Bedrohungslagen geredet.
Es drohte Gefahr durch die Nordkoreaner, die Taliban, al-Qaida, die Tschetschenen, die Bruderschaft Islamischer Dschihad, Ost-Malaysia, den Sudan und Indonesien. Auch über die Iraner hatte man kurz diskutiert, aber ungeachtet der surrealen Phrasen, die man aus dem Präsidentenpalast gewohnt war, nahm niemand sie besonders ernst. M tat das arme Regime in Teheran fast leid. Persien war einst eine so bedeutende Größe gewesen.
Bedrohungslagen …
Doch der eigentliche Anschlag – ein Anschlag auf ihn – geschah erst jetzt, während einer Teepause der Sicherheitskonferenz, dachte er sarkastisch. M beendete das Telefonat mit Moneypenny und lehnte sich zurück. Er befand sich in der verblichenen Pracht eines alten Salons, gelegen in einem Gebäude an der Richmond Terrace, zwischen Whitehall und dem Victoria Embankment. Es war einer dieser zutiefst langweiligen Bauten unbestimmten Alters, in denen um entscheidende Fragen der Regierungsarbeit gerungen wurde.
Das bevorstehende Attentat ging von zwei Ministern aus, die dem Joint Intelligence Committee angehörten. Sie steckten soeben nebeneinander die Köpfe zur Tür herein
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