Caruso singt nicht mehr
was über einer Auflage von zehntausend Exemplaren liegt, wäre schon ein Erfolg. Und die Auflage ist drin.«
»Mag sein. Aber läppische acht Prozent von zehntausend mal Ladenpreis hält auch nicht die Ewigkeit.«
Paul seufzte. »Schön, daß du mir Mut machst.«
Karen tätschelte ihm den Arm. »Ich bin nur Realistin.«
Bremer lehnte sich zurück und rettete seine Serviette vor den zupackenden Händen der Freundin.
»Vielleicht mach ich auch was ganz anderes …«
»Ach ja?« Karen zog die Augenbrauen hoch.
»Was Literarisches.«
Belustigtes Schnauben. Pauls Freundin, die Staatsanwältin, las außer Akten höchstens Krimis. Nur von den Angelsächsinnen. Und nur in der Originalsprache. Wegen der Pflege der Sprachkompetenz usw. – man kannte ja die Ausflüchte.
»Einen Krimi?« fragte sie mit tiefer Stimme.
»Keinen Krimi«, sagte er mit Nachdruck.
»Ach Paul. Ich will nur nicht, daß du verbauerst da draußen …«
Paul kannte die Befürchtung. Alle seine Freunde überprüften ihn bei seinen regelmäßigen Besuchen in der Stadt auf untrügliche Kennzeichen fortschreitender Verbauerung. Konnte er noch mitreden? War er noch hinreichend geschmacks- und urteilssicher? Oder trank er womöglich mittlerweile nur noch Bier, trug Holzfällerhemden und hatte Schwielen an den Fingern?
Paul lehnte sich seufzend zurück, während der Kellner einen Burgunder entkorkte, einen Weißwein. Puligny-Montrachet. Jahrgang 1992. Auf die Weinkarte im »Trapez« konnte man sich verlassen, zumindestens in den preislich höheren Regionen. Dafür sorgte Pauls alter Freund Max Kohl, der Sommelier, der den Weinkeller des Restaurants mit Fanatismus pflegte. Von Kohl hatte Bremer gelernt, wieso Fußballfans die besten Weinkenner sind. Wer die Ergebnisse, die Torschützen und die wichtigsten Spieler aller großen internationalen Fußballspiele der letzten dreißig Jahre auf Zuruf benennen konnte, hatte Kohl behauptet, mußte auch die Bewertungen der Weine, Winzer und Jahrgänge im Traum dahersagen können. Kohl, als alter Fußballer, konnte beides.
Mit Karen Stark traf Bremer sich, wenn er in Frankfurt war, am liebsten hier. Sie würde das Restaurant wohl ihre Stammkneipe nennen, wenn das zu Preisgestaltung und Ambiente auch nur im entferntesten paßte. Karen war oft hier – und nicht etwa, weil das »Trapez« just um die Ecke der alten und neuen Gebäude der Frankfurter Justiz lag, sondern obwohl das so war.
Meistens saßen sie im Restaurant unten im alten Kellergewölbe, in dem man, fand Paul, ziemlich gut essen konnte. Zweimal hatten sie sich auch zur eigentlichen Attraktion des »Trapez« getroffen, beim Varieté, das Harri und Dani Ebinger vor zehn Jahren in dem kleinen Saal gegründet hatten, der über dem Restaurant lag. Unter einer holzgetäfelten Kuppel ballte sich das Frankfurter Publikum Abend für Abend auf engstem Raum, während, wie Harri Ebinger süffisant anzumerken pflegte, in den teuren Subventionsruinen der Stadt »tote Hose« gegeben wurde. Seine Vorstellungen waren jeden Tag bis auf den letzten Platz ausverkauft. »Ich bin der Bürgermeister der Nacht!« verkündete er deshalb gern. Harri Ebinger war ohne Zweifel ein durch und durch bescheidener Mensch.
»Alle suchen nach Gefühlen«, hatte Karen bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch im Varieté während eines atemberaubenden Drahtseilaktes geflüstert. »Nach Träumen, nach Schönheit.« Paul hatte sie damals, das wußte er noch heute, erstaunt angeguckt. Sie auch? Die abendlichen Séancen im »Trapez« mit Schlangenmenschen, Jongleuren, Akrobaten, Magiern oder Tierbändigern schienen dieses Bedürfnis jedenfalls eher zu befriedigen als Brecht, Beckett oder Goetz im Schauspielhaus. Bremer war aus dem Alter heraus, in dem er darüber noch gespottet hätte.
»Das Landleben hat wohl doch seine Grenzen, oder?« Paul hatte gerade mit genießerischem Seufzen das Glas wieder abgestellt und Manuel angestrahlt, der den ersten Gang servierte. Paul sah Karen an, was sie dachte: »Der arme Kerl! Wie ausgehungert er sein mußte nach kultiviertem städtischen Genuß!« Er sah das anders. In dieser Frage war sie alles andere als objektiv.
»Schmal siehst du aus!« sagte sie mütterlich und fügte spöttisch hinzu: »Du siehst ausnahmsweise mal so alt aus, wie du bist.«
In Bremers sonst so glattem Gesicht mit den gelbgefleckten braunen Augen und der geraden Nase unter dem kurzgeschnittenen weißen Haar sah man feine Falten. Müde sah er aus, und sein Mund war, glaubte
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