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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sich nicht nur, ohne es zu wollen, in Anne verliebt hatte. Das ging ja noch. Sondern auch in sein gottverlassenes, stinkendes, lautes und enges Kuhkaff. Und auch das nur aus Versehen. Es mußte erst jemand kommen, der dich aus der Idylle vertreiben will, Bremer, dachte er. In Gefühlsdingen bist du ganz schön schwach auf der Brust.
    Er schaltete runter und ging die nächste Steigung sanft an, damit sein Herz wieder langsamer schlug. Keine Idylle war perfekt. Erwin soff, Alfred schlug seine Frau, und Marianne, die ihm einmal ihr Herz ausgeschüttet hatte, zweifelte an ihrer Ehe. Der jüngste Sohn vom Schweinebauern Knöß war kürzlich laut um Hilfe brüllend nachts um drei Uhr auf der Landstraße gesehen worden – Drogen, hieß es. Und Kathrinchen mit ihren fünfzehn Jahren war schwanger. Gib der Perspektivlosigkeit einen Namen: Familie, dachte Paul böse.
    Aber wer wollte es schon perfekt, vor allem, wenn es um Idyllen ging? »Sie haben dich freundlich aufgenommen, als du krank und kaputt warst, Bremer«, sagte er sich. Nach der Scheidung von Sibylle. Und ihm etwas gegeben, von dem er bis dato gar nicht wußte, daß er es brauchte: Kontrolle. Soziale Kontrolle. Paul lachte auf und ließ sich den Berg hinunterrollen. Wer hätte das gedacht: daß Kontrolle glücklich machen konnte …
    Gottfried, zum Beispiel. Der gute Gottfried. Gottfried hatte den ganzen Tag nichts zu tun – außer dem bißchen Hühnerfüttern und Karnickelzüchten. Zwischendrin – das heißt, meistens – saß er vor dem Haus und ließ sich von der Sonne bescheinen, Pauls kleines Anwesen direkt im Blick. Gottfried war ein zufriedener Mann. Gottfried war ein glücklicher Mann. Gottfried hatte alles unter Kontrolle. Vor allem Paul.
    Gottfried wußte, wann Paul aufstand, wie lange er am Schreibtisch saß, wen er zu Besuch hatte und wann der das Haus verließ; wie viele leere Weinflaschen Paul wöchentlich zum Altglas-Container trug, und was es bei ihm zum Mittagessen gab. Gottfried ermahnte ihn, beim Gärtnern oder Renovieren rechtzeitig Feierabend zu machen und erinnerte ihn bei aufziehenden Wolken daran, das Verdeck seines Autos zu schließen.
    Wenn Gottfried etwas entging, war immer noch Marianne da. Während Gottfried Pauls Anwesen von der gegenüberliegenden Straßenseite aus einsehen konnte, lag Mariannes Bauernhof gleich links von ihm. Sie nahm Pakete entgegen, wenn Paul unterwegs war. Sie schleppte ihm im Sommer ganze Eimer voll mit Salat an, von dem sie immer zuviel hatte. Sie brachte ihm selbstgebackenes Brot mit, vom Backhaus. Er war froh, wenn er ihr dafür das Feuerholz hacken und im Herbst ein paar Körbe Äpfel geben konnte.
    Sie hatte ihm ziemlich bald das Du angeboten, damals, als er krank und deprimiert in Klein-Roda ankam. Es war ihm heute noch peinlich, daß nicht er es war, der im Dorf die Runde machte, um sich vorzustellen: »Paul Bremer. Ich bin der neue Nachbar. Ich bin der Verrückte, der die Bruchbude da hinten wieder renovieren will. Ich bin ein bißchen einsam, ein bißchen seltsam, aber sonst ganz in Ordnung.« Es war Marianne gewesen, die auf ihn zugekommen war – und es war Marianne, die ihn verteidigte, wenn man sich wieder einmal an ihm störte: Daß er die Gass’ nicht regelmäßig fegte. Und seltsame Freunde hatte. Und häufig nicht da war. Und wovon lebte der Kerl überhaupt?
    Das Dorf hatte ihm wieder Halt gegeben nach der Trennung von Sibylle – soviel stand fest, obwohl es seine städtischen Freunde nicht verstanden: Wie hältst du das aus? Diese ewige Kontrolle! Dieses dauernde Überwachtsein! Daß sie selbst einander oft tagelang weder zu Gesicht bekamen, noch sich auch nur anriefen, mochte er ihnen nicht vorwerfen. Ein Gemeinschaftsapostel war er schließlich nicht. Wie konnte er ihnen erklären, daß ihn die dörfliche Kontrolle einfach nicht mehr schreckte? Wenn er sich von Gottfried beobachtet fühlte, dachte er ihn einfach weg. Am liebsten hätte er seinen Freunden gesagt: Hier kann ich nicht verloren gehen. Hier ist – irgendwie – Heimat … Aber das hätte auch wieder niemand verstanden. Bremer, du sentimentaler Hund, dachte Paul und trat unwillkürlich stärker in die Pedale. Als ob man vor aufstörenden Selbsterkenntnissen wegfahren könnte …
    Nach dem Anstieg hinter Oberhunden stieg Paul vom Rad, nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche und setzte sich auf die Bank, die unter einer Linde vor dem alten, aus Bruchstein gemauerten Wasserreservoir stand. In der Ferne drehten drei

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