Caruso singt nicht mehr
so etwas wie eine eigenständige Architektur zu hinterlassen, mit eigenem Stil, mit einer Stein gewordenen Botschaft. Das Taxi passierte die Torhäuser am Strausberger Platz. An den langgeschwungenen Wohnblocks waren die Fassadenverkleidungen großflächig abgefallen. Immer noch wirkten diese Gebäude großzügiger als die kleinkarierten Plattenbauten, mit denen realsozialistische Bürokraten die arbeitende Klasse beglückt hatten. Ob es die westdeutschen Bauplaner besser machen würden? Wahrscheinlich, dachte Anne. Aber nur, weil das wirklich kein Kunststück war.
Der Tag lag verfroren und verschlafen unter einer tiefen, schmutzigen Wolkendecke. Anne war auf dem Weg nach Berlin-Lichtenberg – in die Normannenstraße, zum einstigen Stasi-Hauptquartier. Hier hatte das Ministerium für Staatssicherheit alles aufbewahrt, was es über seine Bürger in Erfahrung bringen ließ. Akten, Fotos, Filme, Tonbänder und sogar, als besondere Perversion, Geruchsproben von Leuten, die man für Staatsfeinde hielt. Heute verwaltete die Bundesrepublik die Ergebnisse dieses bürokratischen Kontrollwahns. Sie waren für jedermann einsehbar. Wer wollte, konnte hier erfahren, wer ihn ausgespitzelt, verraten, denunziert hat. Und, was vielleicht viel wichtiger war, wer das nicht getan hatte.
Anne hatte bis zu diesem Tag, zwei Jahre nach der Wende, die Möglichkeit verdrängt, daß sie hier einmal auf die Suche nach ihrer Vergangenheit gehen würde. Andere, glaubte sie, hatten es nötiger.
»Willst du nicht auch einen Antrag auf Akteneinsicht stellen?« hatte sie Leo gefragt, im Frühjahr 1991, als es aussah, als ob sie ihre Ehe noch einmal gerettet hätten. Er mußte als Mitglied der Friedensbewegung aktenkundig geworden sein.
»Mit dieser verdammten Stasi-Hysterie habe ich nichts am Hut«, knurrte er schlechtgelaunt.
»Aber sie haben dich doch unter Garantie erfaßt – dich und Wolfgang und Monika und Frank!«
Frank hatte seinen Antrag längst gestellt. Noch hatte er nur die Antwort erhalten, daß er vom Staatssicherheitsdienst mit seinen Personalien erfaßt worden war. Das ließ darauf schließen, daß es auch Unterlagen gab. Die aber waren noch nicht gefunden worden. »Ich zittere ein bißchen vor dem ganzen Theater«, hatte er Anne bei ihrem letzten Telefongespräch gestanden. »Aber ich will es endlich wissen.«
»Alles?« hatte sie ihn gefragt. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Alles.«
Leo wollte gar nichts wissen. »Was soll mir das nützen? Daß die uns belauscht und bespitzelt haben, weiß ich auch ohne Akten.«
»Ihr müßt in der Gruppe einen Maulwurf gehabt haben, es ist viel zu viel aufgeflogen damals. Willst du nicht wissen, wer von euch IM war?«
Leo hatte abwehrend mit den Schultern gezuckt und etwas von »Hexenjagd« gemurmelt. Das Thema war kein Thema mehr. Auch Anne hatte schließlich zu glauben begonnen, das Problem gehe viele an, viele Opfer der Stasi, die ihr Mitgefühl verdienten. Nicht aber sie selbst. Oder ihren Mann.
Der Brief hatte diesen Glauben erschüttert. Man habe, hieß es in vorsichtigem Behördendeutsch im Schreiben des »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik« – im Volksmund nach seinem Leiter die »Gauck-Behörde« genannt –, man habe Material gefunden, aus dem hervorgehe, daß sie beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR als »operativer Vorgang« geführt worden sei. Man lade sie nach Berlin zur Akteneinsicht ein.
»Mach, was du willst«, war Leos mürrischer Kommentar.
»Mach’s«, riet Wolfgang ihr zu. »Du wirst sonst nie erfahren, wem du noch heute bedingungslos vertrauen kannst. Und das wäre vor allem für deine Freunde schrecklich.«
Das Wachpersonal am Eingang zum Haus 7 erinnerte Anne an DDR-Grenzer seligen Gedenkens. Man verlangte ihren Ausweis, schaute ihr routinemäßig aufs Ohr, füllte penibel einen Laufzettel aus und verordnete in bestem Behördendeutsch, sie habe ihren Hausausweis »deutlich sichtbar bei sich zu führen« – man werde ihren Personalausweis »einbehalten«, bis sie das Haus wieder verlassen wolle. Anne merkte, wie sich ihr Widerspruchsgeist meldete. Dabei war dieses Theater bestimmt nicht böse gemeint, dachte sie. Nur alte Gewohnheit.
Fünf Minuten später stand Frau Fisch vor ihr, eine etwa vierzigjährige, sportlich wirkende Aschblonde in Jeans, der die Verlegenheit ins Gesicht geschrieben stand. »Eine patente Mutti«, dachte Anne und hätte fast gegrinst.
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