Caruso singt nicht mehr
Geruch nach Staub, zersetztem Papier, Reinigungsmittel und Angst fluchtartig zu verlassen.
»Deshalb liegt hier alles mögliche: wirklich wichtige Unterlagen über aktuelle Vorgänge ebenso wie Propagandaschriften oder Westzeitschriften. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus, Parteiauszeichnungen, Speisekarten. Orden. Fotos von Erich Mielke. Wir haben erst einen Bruchteil dieses Materials gesichtet. Sie hatten Glück.«
Annes »Vorgang« war schon früh in die Hände eines Archivars gelangt. Und der hatte sofort begriffen, was er da vor sich hatte. »War das wirklich Glück?« fragte Anne mit schmalen Lippen. Frau Fisch seufzte. »Wie man’s nimmt«, sagte sie. »Ich weiß.«
Erst in der »Traditionskammer der Abteilung XX« fand Anne ihren Humor wieder. Es war alles so verdammt spießig: Die Banner und Parolen der »Tschekisten«; die Blechteller, mit denen sich die Spitzel im Namen ihres Schutzheiligen Feliks Dzierzynski – nach der Oktoberrevolution Gründer der Tscheka, der sowjetischen Staatssicherheitsorganisation – zu heldenhaftem Tun beglückwünschten; die Erfolgsmeldungen über den jeweiligen aktuellen Stand der Unterdrückung der Freiheit des eigenen Volkes; die ganzen traurigen Abzeichen eines kleinbürgerlichen Bürokratenstaates.
Das mußte, dachte Anne, das Allerschlimmste sein für ehemalige DDR-Bürger: die Erkenntnis, daß man nicht von einer unüberwindlichen, herrischen Macht unterdrückt worden war, sondern von einer Zusammenrottung vergreister Knaben, die mit ihren Untertanen Räuber & Gendarm spielten. »Ist das nicht alles furchtbar lächerlich?« fragte sie ihre Begleiterin. »Ja«, nickte Frau Fisch. »Furchtbar ist das alles.«
Der Karteiraum im dritten Stock von Haus 8 war die letzte Station der Führung, mit der Frau Fisch offenbar das Unvermeidliche hinauszögern wollte. Anne spürte, wie unruhig sie mittlerweile war. Mit Erstaunen bemerkte sie am schwarzen Brett einen Aushang, der ihren Besuch ankündigte. Trotzdem wurde sie von keiner der vielen älteren Frauen beachtet, die an kleinen Tischen saßen oder an den Karteischränken standen.
»Das Ordnungssystem der Stasi war verblüffend einfach und verblüffend wirkungsvoll«, erklärte die Fisch. »Die zentrale Kartei ›F 16‹ enthält sechs Millionen Namen – Klarnamen, von Bespitzelten und Verfolgten ebenso wie von Spitzeln und Verfolgern. Ohne die Registriernummer, die oben rechts auf jeder Karte steht, ist mit dieser Kartei nichts anzufangen. Erst auf der Karte, die unter dieser Registriernummer in wieder einer anderen Kartei abgelegt ist, in der Kartei ›F 22‹, sind Informationen darüber enthalten, ob die betreffende Person Opfer oder Täter war, wer sie ›bearbeitet‹ oder ›geführt‹ hat, ob der Vorgang bereits abgeschlossen oder noch aktuell war.«
Gut ausgedacht: So schützte die Stasi ihre eigenen Mitarbeiter vor allzuviel Wissen: Wer den »Klarnamen« kannte, wußte damit nicht, ob Freund oder Feind dahinterstand. Und wer nur die Registriernummer erhalten hatte, konnte daraus den »Klarnamen« nicht rekonstruieren.
Anne stand ungläubig vor den Reihen von Karteikästen, diesen fortschrittlich-sozialistischen Verkörperungen bürokratischer Sammel- und Ordnungswut. »Aber ich liebe euch doch alle!« hatte Erich Mielke gesagt, der ehemalige Minister für Staatssicherheit der DDR, der Chef dieser ganzen Abstrusität. Das, dachte Anne bitter, mußte wohl das Problem gewesen sein.
»Ich bin jetzt soweit«, sagte sie zu Frau Fisch.
»Muß ich mir«, fragte Anne, als beide den langen Verbindungsgang zwischen Haus 8 und Haus 7 durchschritten hatten und wieder in den Paternoster stiegen, »den ganzen Krempel vor den Augen sämtlicher Paternosterfahrer angucken, die heute Lust aufs Paternosterfahren haben?« Im Flurraum auf der dritten Etage saßen jetzt nur noch zwei Paare über ihre Papiere gebeugt.
»Keine Sorge. Sie können nachher allein und ungestört im Lesesaal Platz nehmen«, antwortete die Fisch leise, »hier findet nur das Vorgespräch statt.« In der zweiten Etage stiegen sie aus.
Anne glaubte, so etwas wie Mitleid im Gesicht ihrer Begleiterin erkannt zu haben. Verdammt, fuhr es ihr durch den Kopf, ist es so schlimm? Sie setzte sich an einen der freien Tische. Frau Fisch kam bald zurück. Sie balancierte vier blaue Aktenmappen. Anne hob fragend die Augenbrauen. Die Sachbearbeiterin legte den Stapel behutsam auf den Tisch.
»Das ist meine Akte?« Daß es soviel Material über sie gab, hätte
Weitere Kostenlose Bücher