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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Sie hatte nie verstanden, warum diese Bezeichnung für DDR-Frauen geradezu ein Kosename gewesen war.
    »Coole Karrieretype«, registrierte Ilona Fisch, als sie Anne etwas verloren beim Empfang stehen sah. »Sehr schlank. Sehr blond. Sehr gepflegt. Gut geschnittenes Kostüm. Interessante Brille.« Das minderte ihr Mitleid mit der Frau keineswegs. Die traf es meistens am härtesten, die glaubten, alles im Griff zu haben. Und die all die Jahre eine Kleinigkeit übersehen hatten.
    »Wollen Sie gleich in die Akte schauen, oder soll ich Ihnen erst zeigen, wo wir die Unterlagen gefunden haben?« Die beiden Frauen lächelten sich an. Anne merkte, daß ihr jeder Aufschub recht war. Man bot ihr, als Politikerin, offensichtlich eine Sonderbehandlung an. Sie hatte heute gar nichts einzuwenden gegen ein paar Privilegien.
    Mit einem Paternoster fuhren sie in den dritten Stock. Auf jeder Ebene das gleiche Bild: Stühle und Tische, wie aus dem Frühstücksraum des FDGB-Ferienheims »Wilhelm Pieck«, an den Wänden farbig lackierte Metallspinde, an den Tischen Paare, die ernst aufeinander einredeten, vor sich mehr oder weniger dicke Aktenmappen. Auf der ersten Etage saßen zwei, auf der zweiten ebenfalls zwei und auf der dritten Etage vier Paare. Anne wurde mulmig bei diesem Anblick. Fanden sie hier statt, die Enthüllungen, mitten in aller Öffentlichkeit? Wurden hier die Menschen mit einer Wahrheit konfrontiert, für die wahrscheinlich niemand dankbar war? Oder waren das etwa die »Täter-Opfer-Gespräche«, von denen sie gehört hatte, die Begegnung der Spitzel mit den Ausgespitzelten? Anne schwor sich, daß sie sich auf diesen Beichten-und-verzeihen-Schmus nie einlassen würde. Sie hatte sich mit einem Spitzel nichts zu sagen.
    Im dritten Stock verließen sie den Paternoster. Frau Fisch sprang mit Eleganz, Anne nicht ganz so geübt aus dem Holzkasten. Auch zwei Jahre nach der Wende roch es noch nach Lysol im ehemaligen Hauptquartier der Stasi. Im dritten Stock befand sich der Übergang in ein anderes Gebäude, ins Haus 8, ins eigentliche Archivgebäude. Frau Fisch ging voraus durch einen langen Gang, dann mußten sie wieder hinunter, durch ein Treppenhaus, in den Keller.
    »Das MfS hat erst Mitte der achtziger Jahre mit dem Bau dieses Komplexes begonnen«, erläuterte Frau Fisch. »Alles sollte auf die Bedürfnisse von ›Horch und Guck‹ zugeschnitten sein.«
    »Sieht nicht so aus, als ob sie fertig geworden wären«, kommentierte Anne den provisorischen Zustand des Treppenhauses.
    »Nein.« Frau Fisch sperrte die Tür zum Keller auf. »Hier, im sogenannten ›Kupferkessel‹, sollte die gesamte Elektronik abhör- und anpeilsicher untergebracht werden – deshalb ist alles nahtlos mit Kupferblech ausgeschlagen.« Auch daraus war nichts mehr geworden. Statt dessen war das riesige Kellergewölbe zur Gruft der Stasi geworden – zur Lagerstätte für das papiergewordene Schicksal von Menschen. Anne fand den Anblick der Unmengen von mehlsackgroßen Papierbeuteln, die hier gestapelt waren, beklemmend.
    »Ursprünglich waren es 17200 Säcke, jetzt sind es noch etwa 5 800«, kommentierte ihre Begleiterin lakonisch. »MfS-Mitarbeiter haben nach der Wende alle Vorgänge hier heruntergeschafft, die man vernichten wollte. Als die Bürgerkomitees die Normannenstraße im Januar 1990 besetzten, fanden sie mehr als hundert durchgebrannte Reißwölfe, die diesem Ansturm nicht standgehalten haben. Viele Akten sind von MfS-Offizieren mit der Hand zerrissen worden.«
    »Kann man denn daraus noch irgend etwas rekonstruieren?« fragte Anne ungläubig.
    »Es sind schon viele Schicksale aus den Säcken wieder emporgestiegen«, sagte Frau Fisch mit Genugtuung und ging voran ins Nebengelaß.
    Annes Akte hatte sich hier, im sogenannten »Arbeitsmagazin«, gefunden. Hier wurden Unterlagen aufbewahrt, die zwar unzerstört, aber nicht geordnet waren. Anne starrte sprachlos auf die langen Regalreihen, in denen sich Papierstapel häuften, zerknittert und vergilbt, dazwischen Aktentaschen, Kleidungsstücke, Buchstützen.
    »Die Mitglieder der Bürgerkomitees haben zunächst die Büros leergeräumt, alles, was sich dort fand, in Bündel zusammengefaßt und mit Hinweisen auf Inhalt und Fundort versehen.« Ihre Begleiterin, dachte Anne, hatte das sicher schon hunderte von Malen erzählt. Wißbegierigen Besuchern ebenso wie prominenten Opfern des Spionagegroßbetriebs der DDR. Anne fühlte die unbändige Lust in sich aufsteigen, diesen unwirklichen Ort mit seinem

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