Caruso singt nicht mehr
Motorradpolizisten Glauben schenken durfte. Ihn hatte das Tier mitsamt der schweren Maschine einfach umgestoßen, nachdem er es nach einer Verfolgungsjagd mit drei Streifenwagen umzingelt hatte. Seine Kollegen hatten vorsichtshalber ihre Vehikel gar nicht erst verlassen, denn das weiße Untier hatte nach ihnen ausgeschlagen und sichtbare Dellen im Autoblech hinterlassen.
Anne konnte sich einen Lacher nicht verkneifen. Die netten Jungs mußten sich ziemlich dämlich angestellt haben.
»Gibt es bei Ihnen«, fragte sie der junge Polizist mit dem vor Verlegenheit leicht geröteten Gesicht, »vielleicht Fälle von Rinderwahnsinn?«
Es kostete sie Mühe, ernst zu bleiben. So wie sie die Dinge sah, handelte es sich hier lediglich um einen Fall von tierischem Selbstbehauptungswillen. Freiheitsdurst war nicht wahnsinnig, sondern, glaubte Anne fest, ein tiefverwurzelter Trieb aller Kreaturen. Achselzuckend nahm sie Krysztof das Halfter aus der Hand, ging langsam auf das schweißüberströmte Tier zu und streifte es ihm einfach über den Kopf. Sie drückte dem polnischen Feldarbeiter den Strick in die Hand.
»Schaff sie fort«, sagte sie. Dagobert schnappte nach dem rechten Hinterlauf des Tieres, als ob er ihm Beine machen wollte.
Während die Streifenfahrzeuge abdrehten und die Neugierigen sich um sie sammelten, diktierte Anne dem Jungpolizisten ihre Personalien. Sie grüßte diejenigen der Gaffer, die sie kannte, kommentierte freche Bemerkungen mit einem Achselzucken und machte sich auf den Heimweg. Der Alltag hatte sie wieder. Die gestrigen Ereignisse erschienen ihr unwirklich.
Die Luft war frisch und feucht, der Himmel über ihr bot ein Spektakel aus fliehenden Wolken vor eisblauem Hintergrund. Die Sonne hatte ihren Höchststand noch nicht erreicht, aber viel höher würde sie um diese Jahreszeit auch nicht mehr steigen. Anne stapfte mechanisch vorwärts, dem vorauslaufenden Dagobert hinterher. Als sie der erste Tropfen traf, blickte sie überrascht nach oben. Wo eben noch Bewegung war, hatte sich jetzt ein einförmiges, mit Gelb vermischtes Grau ausgebreitet. Sie hatte noch einen Kilometer zu gehen und eine Jacke ohne Kapuze an. Anne stemmte sich in den plötzlich böigen Wind.
Zuerst fand sie den kühlen Regen angenehm, der von ihrer Haut abperlte. Dann regnete es stärker, die Tropfen wurden zu scharfen kleinen Nadelspitzen. Ihre Brille hatte sie längst in die Tasche ihrer Jacke gesteckt, deren Imprägnierungsschutz seine besten Zeiten hinter sich hatte. Unermüdlich drang das Wasser auf sie ein, durchnäßte ihre Jeans auf der Vorderseite ihrer Oberschenkel, schlüpfte unter die Ärmel ihrer Jacke, durchweichte ihre Schuhe. Anne kniff die Augen zu, in die der Regen hineinzuschlagen versuchte. Es war, als ob die entgrenzten Elemente angetreten wären, ihr die Erinnerung an die letzte Nacht und an die paar Quadratmeter gekachelte Panik auszutreiben.
Anne atmete tief ein. Sie verstand noch immer nicht, was eigentlich passiert war. Wer sie eingesperrt hatte und warum. Aber das war jetzt egal: Sie mußte endlich wissen, wo Rena war. Als sie auf den Feldweg zum Weiherhof einbog, war ihr heiß vor Sorge. Sie begann zu laufen, durch den langsam abebbenden Regen, durch den Schlamm, über den Schotter, durch Regenpfützen. Im Haus machte sie sich gar nicht erst die Mühe, ihre nassen Klamotten auszuziehen. »Rena!« rief sie laut schon im Flur, lief in die Küche, in den großen Kaminraum, ins Gästezimmer und dann die Treppe hoch. Fast vermißte sie die hart hämmernde Musik, die ihr sonst immer überdeutlich mitgeteilt hatte, daß ihre Tochter zu Hause war. Vor Renas Tür hielt sie inne und versuchte Atem zu schöpfen. Sich zu fassen, sich zu beruhigen. Dann öffnete sie die Tür. »Was ist denn?« klang ihr eine schlaftrunkene Stimme entgegen. Rena hatte die Vorhänge zugezogen und lag im Bett.
Dem Himmel sei Dank. Anne machte die Tür leise hinter sich zu und lehnte sich atemlos an die Wand. Sie hatte sich vergeblich gesorgt. Rena war nichts passiert. Ihre Erleichterung übertönte fast die zaghafte kleine Stimme, die wissen wollte, warum Rena denn dann um acht Uhr früh noch nicht im Bett gelegen hatte? Und warum ihr Zimmer von außen abgeschlossen gewesen war? Anne schob den Gedanken weg. Ihre Tochter war achtzehn. Und durfte machen, was sie wollte. Vielleicht war sie mit Alexander zusammengewesen? Das schien ihr die einfachste, die natürlichste Lösung des Rätsels zu sein. Aber aus irgendwelchen Gründen war
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