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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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überrascht zu ihm hinüber. Er sah besorgt aus. Er sah, dachte Anne, beinahe hilflos aus. »Mir ist die ganze Angelegenheit ein Buch mit sieben Siegeln. Ich komme mit dem Fall nicht weiter. Überhaupt nicht.« Der Inspektor seufzte wieder. Warum war die Burau bloß so entsetzlich dickköpfig und widerspenstig? »Ich brauche Ihre Hilfe.«
    Anne sagte nichts. War das ein ermittlungstechnischer Trick? Oder war sie plötzlich wirklich nicht mehr die Tatverdächtige Nummer eins? Aus irgendeinem Grund glaubte sie plötzlich, ihm vertrauen zu können. »Gehen wir«, sagte sie kurz und ging voraus. Kosinski folgte ihr zum Wohnhaus und in den großen Raum im Erdgeschoß.
    Ihm gefiel, was er sah. Die Bücherwände reichten bis zur Decke, ein gemauerter Kamin dominierte den Raum, und auf einem der beiden einladend großen Sofas räkelte sich der dicke graue Kater. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, rechts davon führte eine Balkontür auf eine Terrasse, auf der ein Lorbeerbaum neben einem Zitronenbäumchen stand, Gartenmöbel, ein Sonnenschirm. Den würde man in diesem Jahr wohl nicht mehr brauchen.
    Anne schilderte in knappen Worten die Ereignisse der Nacht, ein bißchen verlegen, so, als nähme sie sich nicht weiter wichtig.
    Kosinski rauchte. Die Aussagen der beiden Jagdpächter erlaubten keinen Zweifel an der Version der Burau: Sie mußte tatsächlich stundenlang eingesperrt gewesen sein. In der Kühlkammer, in der man auch die Leiche ihres Mannes gefunden hatte.
    Kosinski drückte seine dritte Ernte 23 in dem extra geräumigen Aschenbecher aus, den Anne ihm demonstrativ hingestellt hatte, und sah sie prüfend an. Sie hat jede Menge Selbstbeherrschung, dachte er flüchtig. Vielleicht manchmal ein bißchen zuviel davon.
    »Keine Vorstellung, wer es war?«
    »Vorstellungen jede Menge!« Anne brauste auf. »Der Mörder, der Brandstifter, der Pferdeschlitzer!«
    »Ich meine: Denken Sie an eine ganz bestimmte Person dabei?«
    Anne schüttelte den Kopf, jetzt wieder ganz kleinlaut.
    Kosinski guckte geistesabwesend aus dem Fenster und kraulte dem dicken Kater den Bauch, der sich neben ihn auf den Rücken geworfen hatte, alle vier Pfoten in die Luft gestreckt.
    »Wenn es der Mörder Ihres Mannes war, der Sie heute nacht eingesperrt hat«, sagte er schließlich, »lautet die Preisfrage: Warum leben Sie dann noch?«
    »Frage ich mich auch.« Plötzlich merkte Anne, wie ihr die Ungeheuerlichkeit der letzten Nacht bewußt wurde. Nein, normal war das wirklich nicht, was hier passierte. Ein Fluch lag auf dem Hof, hatte sie Paul erzählt. Anne hielt die Luft an. Ihr war, als hätte ein eisiger Hauch aus der Vergangenheit sie gestreift.
    »Warum hat jemand Ihren Mann umbringen wollen?« fragte Kosinski, jetzt ganz ernst.
    »Na, Sie wissen doch«, wollte Anne kokett antworten, »die frustrierte Gattin …« Aber sein Blick verbot ihr jegliche Frivolität. Er wollte ihre Hilfe. Er wollte wirklich ihre Hilfe.
    »Gibt es vielleicht«, hakte Kosinski geduldig nach, »irgend etwas aus der Vergangenheit, das uns einen Hinweis auf ein Tatmotiv geben könnte?« Anne sah ihm in die Augen und gab sich einen Ruck.
    »Sie wissen«, fragte sie leise, »was mich und meinen Mann – entfremdet hat?« Was für ein banales Wort, dachte sie sarkastisch, für die Beschreibung eines jahrelangen brutalen Verrats.
    Kosinski fingerte schon wieder eine Zigarette aus der Schachtel. »Im wesentlichen ja. In den Details nein.«
    Anne sah ihn stumm an, stand auf und ging zum Bücherregal. Mit zwei Aktenordnern und einer Mappe kam sie zurück.
    »Hier«, sagte sie und legte die Akten auf den Tisch. »Das ist zwar nur ein kleiner Ausschnitt. Bei der Gauck-Behörde stehen an die zwei Meter. Aber mir reicht es völlig. Man nennt so was heutzutage eine Opferakte.« Kosinski nickte. Er glaubte, ihre Bitterkeit verstehen zu können. »Damals war es der operative Vorgang ›Blondie‹. Viel Vergnügen.«
     
    Es war ein deprimierender Wintertag gewesen. Berlin kam ihr hektisch und fremd vor. Und die Taxifahrt durch die Stadt, vorbei an der Wüstenei des Potsdamer Platzes, am Brandenburger Tor, am Alexander-Platz schien sich endlos hinzuziehen. Nur die Karl-Marx-Allee, die bei Anne noch immer Stalinallee hieß, übte auf sie einen gewissen Reiz aus. Die Stalinallee war einst das Geschenk des »sowjetischen Volkes« an das »Volk der DDR« gewesen: ein langgestrecktes, geschlossenes, durchaus eindrucksvolles Gebäudeensemble. Ausgerechnet dem Stalinismus war es gelungen,

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