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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sie nicht geglaubt.
    »Um Himmels willen! Das ist nur ein kleiner Bruchteil davon!« sagte Frau Fisch.
    »Und auch davon dürfen Sie nicht alles lesen. Es mag Ihnen ja absurd erscheinen«, versuchte sie den umständlichen Vorgang zu erklären, »aber aus datenschutzrechtlichen Gründen müssen wir dafür sorgen, daß die Anonymität anderer in den Akten auftauchender Personen gewahrt bleibt.« Deshalb waren einige Stellen eingeschwärzt oder ganze Blätter mit einem gelben Papierbogen abgedeckt, der mit drei großen Büroklammern befestigt war. »Schauen Sie bitte nicht darunter«, sagte die Fisch und breitete um Verständnis bittend die Hände aus. »Das sind nun mal die Vorschriften.«
    In Hinblick auf datenschutzrechtliche Unbedenklichkeit hatte die Sachbearbeiterin jedes Blatt, jeden Satz von Annes Akte gelesen und überprüft. Sie wird mich nicht mehr angucken vor Scham, dachte Ilona Fisch flüchtig, wenn sie weiß, was ich weiß.
    Anne runzelte die Stirn. Sie verstand nicht. »Sie brauchen keine Namen«, flüsterte Frau Fisch ihr zu, »um zu erkennen, wer Sie verraten hat.«
    Sie stand abrupt auf. Und legte ihre Hand auf Annes Arm. »Nehmen Sie’s nicht so schwer.«
    Als Anne mit ihrem Papierstapel den eigentlichen Leseraum betrat, saß ihr das beunruhigende Gefühl in der Magengrube, daß es einen verdammt guten Grund geben mußte, warum eine wildfremde Frau Mitleid mit ihr hatte.
    Im Lesesaal saßen schon andere, das gesenkte Haupt über Papierstöße gebeugt, über deren datenschutzmäßige Unversehrtheit eine etwas erhaben sitzende Lesesaalaufsichtsdame wachte. Anne fühlte sich klein und hilflos.
    Nach einer Viertelstunde wußte sie, warum Frau Fisch sie mitleidig angesehen hatte. Nach einer weiteren Viertelstunde kämpfte Anne mit Atemnot. Und nach wieder einer halben Stunde wurde ihr vor Scham so heiß, daß sie den plötzlich ganz milde guckenden Zerberus von der Lesesaalaufsicht bitten mußte, ein Fenster zu öffnen. Die Frau hatte wahrscheinlich schon viel gesehen, dachte Anne, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Haareraufende, ungläubig »Das glaub ich nicht!« ausstoßende, verzweifelte, hysterische, weinende ehemalige Objekte der Observation – Opfer ihrer Freunde, Kollegen und Verwandten. Eine um Luft ringende westdeutsche Politikerin, die aus den Akten entnehmen mußte, was ihr ja vielleicht hätte auffallen dürfen, nämlich, daß ihr Mann sie jahrelang bespitzelt hatte – das, sagte sich Anne bitter, war wahrscheinlich noch nicht einmal etwas Besonderes.
    Sie guckte sich um. Vorn am Fenster saß ein grauhaariger Mann, zusammengesunken, die Hände vors Gesicht geschlagen. War’s die Ehefrau? Der Bruder? Rechts von ihr blickte ein jüngerer Mann ins Leere, er mußte so alt sein wie sie. Anne senkte die Augen, als sie sein versteinertes Gesicht sah. Niemand, dachte sie, sollte uns so sehen dürfen. So hilflos, so hintergangen, so betrogen. So dumm, fügte sie wütend hinzu.
    Leo hatte sie auf Weisung geliebt. »Es ist daran gedacht, eine echte Liebesbeziehung zu der B. herzustellen«, hieß es im entsprechenden Bericht mit entwaffnender Logik. Anne hätte beinahe laut aufgelacht. Und daß er sich später zum »Wechsel des Operationsgebietes ins nichtsozialistische Ausland« bereit erklärte, hatte ihm eine Geldprämie und einen Orden eingetragen. Bravo, Leo, dachte Anne sarkastisch. Mutig von dir.
    Es waren die Details, die wirklich weh taten. Die kleinen bürokratischen Nadelstiche. Die Quittungen, die Leo eingereicht hatte – wg. Kostenerstattung. Für Blumen (die er ihr geschenkt hatte). Für das Essen und die Flasche Wein, zu denen er sie ins »Jade« im Ostberliner Palasthotel eingeladen hatte. Sie hatte sich damals gewundert, daß er so schnell einen Tisch bekommen hatte. Der normale Ostbürger mußte darauf drei Wochen warten. Nur für Westdeutsche – und die Stasi – gab es ein festes Kontingent.
    Und schließlich der Beleg für den Anzug, den er kaufte, als er bereits im Westen war. Den er auf dem Standesamt trug. Als sie heirateten. »Ich bekräftige hiermit, daß die angeführten Kosten im Rahmen einer notwendigen dienstlichen Maßnahme eingetreten sind.« Gezeichnet: Caruso.
     
    »Den Decknamen ›Caruso‹ hat er sich selbst gegeben. Sehr passend, nicht? Der sang, bekanntlich«, sagte Anne voll bitterem Sarkasmus, als Kosinski den zweiten Aktendeckel zugeklappt hatte. Ihm reichte, was er beim Durchblättern gelesen hatte.
    »Die Liebesaffäre mit Leo war eine

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