Caruso singt nicht mehr
jagte ein böiger Wind über den Hof. Mit einem Krachen schlug die Haustür zu, flog die Tür zur Bibliothek auf. Der jähe Luftzug drohte die Papiere zwischen den Aktendeckeln vom Tisch zu wehen. Geistesgegenwärtig stellte Kosinski den schweren Aschenbecher auf den Stapel. Kater Boris sprang vom Sofa und machte mit gesträubtem Fell einen Buckel.
»Komm, schnell!« rief Krysztof mit hektischen roten Flecken im Gesicht.
»Was ist los, Krysztof«, fragte Anne, voller Vorahnungen. Der Inspektor war schon aufgesprungen.
»Komm«, sagte der polnische Landarbeiter, fast flehend. Auf dem Weg hinaus schlüpfte Anne in die Gummistiefel neben der Haustür und griff sich die Jacke vom Haken. Krysztof lief zum großen Pferdestall, wo die Pferde standen, wenn sie nicht auf der Koppel waren: die Tiere, die Anne zur Miete bei sich untergestellt hatte. Und ihre eigenen. Killroy, der Palomino. Bucephalus. Ihm war nichts passiert, stellte Anne mit Erleichterung fest, als sie im Mittelgang des großen Stalls angekommen waren. Aus der dritten Box links blickte sein schöner großer Kopf neugierig in ihre Richtung, er hatte die Ohren aufgestellt und grummelte leise. Vor Bucephalus machte Krysztof halt.
Hinter dem Pferd, in der rechten äußersten Ecke der Box, saß Rena. Auf ihrem Schoß hielt sie den Kopf von Alexander. Der Junge lag ausgestreckt im Stroh, in einer vertraulichen, ja intimen Pose, und ließ sich von Rena über die Haare streichen. Anne war sprachlos. Und fühlte fast so etwas wie Ärger in sich hochsteigen. Vorhin noch wäre sie erleichtert gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß Rena mit Alexander die Nacht verbracht hatte. Jetzt fand sie die romantische Pose der beiden – »im Stall, um Himmels willen« – etwas, na ja, deplaziert. Als sie die Augen von dem jungen Mann hob und in Renas Gesicht sah, verflog ihr Ärger. Das Mädchen starrte apathisch und mit verweinten Augen vor sich hin.
Kosinski schien sofort zu wissen, was los war, ging am hilflosen Krysztof vorbei zum Stall, schob sanft, aber bestimmt den neugierigen Bucephalus zur Seite und kniete sich neben Alexander aufs Stroh. Er fühlte dem Jungen den Puls, erst am Handgelenk, dann am Hals, hob ein Lid der geöffneten Augen an und griff nach Renas Hand, die sie ihm lethargisch überließ. Jetzt sah auch Anne die leblosen Augen und das Blut, das eine schmale Spur neben dem linken Mundwinkel Alexanders hinterlassen hatte. Der Junge war tot.
»Wann?« fragte Kosinski. Rena schüttelte benommen den Kopf und leckte sich über die trockenen Lippen, deren zarte Haut aufgeplatzt war. »Weiß nicht«, flüsterte sie.
»Wann hast du ihn gefunden?«
Rena schluckte. »Um elf. Gestern abend.«
Anne wurde es heiß vor Mitgefühl. Das Kind mußte die ganze Nacht hier verbracht haben, mit einem Toten auf dem Schoß.
»Warst du die ganze Zeit bei ihm?«, fragte der Inspektor, ohne ihre Hand loszulassen. Anne sah, daß er seinen Daumen auf ihr Handgelenk gelegt hatte und auf seine Armbanduhr schaute.
Rena schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst gekriegt«, flüsterte sie, »heute morgen. Und bin nach Hause gegangen.« Aber dann war sie wieder zu dem Toten zurückgekehrt. »Ich konnte ihn doch nicht allein hier liegen lassen«, sagte sie mit halberstickter Stimme.
Kosinski legte eine Hand unter Alexanders Hinterkopf, hob ihn an und drehte den Kopf vorsichtig auf die Seite.
»Nein«, protestierte Rena heiser. Sie mußte die ganze Nacht über geweint haben. Anne hielt sich nur mit Mühe zurück. Sie wollte zu ihrem Kind. Was Kosinski sah, sah auch sie: Das Haar des Jungen war blutverschmiert, der Schädel oberhalb des linken Ohrs deformiert, eingedrückt.
Kosinski blickte zu ihr hoch. »Einwirkung durch einen stumpfen Gegenstand«, sagte er. »Das könnte auch ein Pferdehuf gewesen sein.«
Anne fühlte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. War das sonst so umgängliche Pferd durchgedreht?
»Bucephalus? Muß er jetzt erschossen werden?« fragte Rena mit ganz kleiner, verzagter Stimme.
»Nein!« Diesmal protestierte Anne. Andererseits: Wenn es so war … Sie blickte hilfesuchend auf Kosinski, der aufstand und sich das Stroh von der Hose klopfte.
»Wir sollten keine vorschnellen Schlüsse ziehen«, sagte er und tätschelte den Hals des Pferdes, bevor er die Hand nach Rena ausstreckte. »Wir sollten alles weitere der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner überlassen.«
»Komm, Rena«, sagte Anne leise und ging auf sie zu. »Du kannst ihm nicht mehr helfen.« Das
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