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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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regelrechte Staatsaktion. Von Anfang an. Bis zur Wende. Leo war auf mich ›angesetzt‹, ich sollte systematisch ›abgeschöpft‹ werden. Und ich müßte mich heute wohl geschmeichelt fühlen, für wie wichtig die mich hielten.« Das Projekt »Blondie« war überaus langfristig angelegt gewesen. Man hatte in Ostberlin darauf gesetzt, daß ihre politische Karriere sie in späteren Jahren zu einer unschätzbaren Quelle machen würde. Wer hatte schon mit der Wende gerechnet?
    Anne war aufgestanden und lief unruhig durch den Raum. »Er hat alles erfaßt und weitergegeben. Und kommentiert: Meine beruflichen Kontakte. Meine Zukunftsvorstellungen. Meine Ansichten. Meine Freunde. Meine Lebensgewohnheiten.«
    »Zusammenfassend muß eingeschätzt werden«, hatte der IM Caruso zu Anfang ihrer »echten Liebesbeziehung« notiert, »daß es sich bei der B. um ein charakterlich und politisch schwaches Element handelt, das negativ und feindlich eingestellt ist. Ihr Lebensstil grenzt an Asozialität. Sie hat ein uneheliches Kind, unterhält mit mehreren männlichen Personen intime Beziehungen und neigt auch stark dem Alkohol zu.« Das ist doch alles gar nicht wahr! hatte es in ihr bei der Lektüre aufgeschrien. An dieser – und an anderen Stellen. Heute wußte sie: Wer sich gegen die Perfidie auch noch verteidigen wollte, saß schon in der Falle.
    »Auch den Namen für den ›operativen Vorgang‹ hat Leo erfunden – ›Blondie‹. Eine besonders hübsche Beleidigung.«
    Sie setzte sich wieder aufs große Sofa dem Inspektor gegenüber. Als ob er gespürt hätte, daß sie Trost brauchte, sprang der dicke Kater Boris mit weichen Pfoten neben sie und schmiegte sich an ihr Knie. Kosinski sah sie aus seinen großen grauen Augen freundlich an. Nein, jetzt bloß kein Mitleid, dachte sie und schob den Kater ungeduldig weg.
    Kosinski spürte ihre Abwehr. »Warum haben Sie Kiel verlassen, statt Ihren kleinen Spitzel einfach rauszuschmeißen?« fragte er sachlich.
    Anne zuckte müde die Achseln. »Es wäre irgendwann aufgeflogen.«
    »Aussitzen! Das hat sich als Methode doch bewährt!«
    Anne wußte, an wen er dachte. Sie hatte tatsächlich eine Zeitlang geglaubt, die Sache erhobenen Hauptes durchstehen zu können. Sie war heute froh, daß sie es gar nicht erst versucht hatte. Täter können so etwas aussitzen. Aber nicht ihre Opfer.
    Sie schüttelte den Kopf. »Opfer halten wir hierzulande für schwach. Sie haben sich täuschen lassen, sie haben sich ›hergegeben‹, sie waren dumm genug, sich hintergehen zu lassen. Was würde man wohl von einer Politikerin halten, die von ihrem eigenen Ehemann nach Strich und Faden belogen und betrogen worden ist?«
    »Wenn sie das schon nicht mitgekriegt hat …«
    »Genau. Die Täter haben sich ihrer Aufgabe gewachsen gezeigt. Die Opfer waren dämlich.« Anne spürte wieder den galligen Geschmack im Mund, den sie wohl immer mit dem Tag verbinden würde, an dem sie im ehemaligen Stasi-Hauptquartier Zwangsabschied von einer Lebenslüge genommen hatte.
    »Tut’s weh?« fragte Kosinski leise. Die Verzweiflung in Anne Buraus Gesicht bewegte sogar ihn. Trauer sah er ihr an, Scham. Und Schuldgefühle. Wieso fühlte sie sich schuldig?
    »Wenn es ja nur um mich gegangen wäre«, sagte Anne und schluckte mit trockener Kehle. »Mir hat er ja nicht geschadet.«
    Meinte sie das ernst? Kosinski zweifelte an ihrem Verstand.
    »Aber all den anderen: Einige sind in den Knast gewandert. Andere sind ausgewiesen worden. Und unzählig viele haben sie schikaniert, terrorisiert, eingeschüchtert. Aufgrund von Informationen des IM Caruso.«
    Für einen Fall von besonders eklatantem Verrat hatte Leo sogar eine Extraprämie gekriegt. »Blutgeld«, dachte Anne voller Ekel.
    »Eine Freundin von ihm hat sich in Bautzen erhängt. Im ›Gelben Elend‹, in einem der übelsten Knäste der DDR.« Anne erinnerte sich gut an Ellen Leinemann, die schöne schwarzhaarige Frau mit dem schnellen Witz, die auf keiner Szeneparty in Ostberlin fehlte. Sie war zu fünf Jahren verurteilt worden – wegen versuchter Republikflucht. »Verpfiffen hat sie Leo Matern. Ihr Vertrauter, wie sie glaubte. Ihr Exliebhaber. Ihr guter Freund.«
    Anne sah den Inspektor gequält an. »Warum habe ich davon nichts gemerkt? Es hätte mir doch auffallen müssen!«
    Kosinski spielte mit der leeren Zigarettenschachtel und seufzte. »Und was hätte das geändert?«
    Anne sah ihn an. »Nichts«, sagte sie tonlos. Alles.
     
    Draußen regnete es nicht mehr. Dafür

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