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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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verzweifelten und gebrochenen Mann, der offenkundig den völlig entgegengesetzten Forderungen, die Religion, Vaterrolle und das Leben in der westlichen Welt an ihn stellten, nicht gewachsen war.
    Daß man, je länger man seinen Beruf ausübte, desto abgebrühter wurde, hielt Karen für ein Gerücht. Auf sie traf es nicht zu.
    Auch sonst war es heute nicht ihr Tag gewesen. Der Kollege, dem sie den Entwurf ihrer Anklageschrift gegen den mutmaßlichen Mörder der drei Frankfurter Prostituierten zum Gegenlesen gegeben hatte, war heute nachmittag mit dem Schriftstück in der Hand in ihr Zimmer gekommen und hatte die Tür betont leise und betont nachdrücklich hinter sich zugemacht. Dieses hämische Schwein, dachte Karen, noch immer wütend. »Frau Kollegin«, hatte er mit sanfter Stimme gesagt und die Akte mit bedeutungsvollem Blick hochgehoben, bevor er sie vorsichtig wie ein rohes Ei auf Karens Schreibtisch hatte sinken lassen. »Ich glaube, Sie sollten sich die Sache noch einmal gut überlegen.« Er hatte mit den Knöcheln auf den Tisch geklopft und beim Hinausgehen süffisant hinzugefügt: »Und vielleicht noch einmal eine Nacht darüber schlafen.«
    Karen mußte gar nicht lange nachdenken, geschweige denn eine ganze Nacht lang. Sie sah den Fehler auf Seite drei sofort. Ein krasser Anfängerfehler. Ein, fand die für ihren Perfektionismus berüchtigte Karen Stark, unverzeihlicher Fehler. Ihr stieg beim Gedanken daran das Blut ins Gesicht. Hastig hob sie das Weinglas und nahm einen tiefen Schluck. »Brauchst du Urlaub?« fragte sie sich beunruhigt. »Oder ist das die Midlife-crisis?«
    Es war Freitag abend und noch nicht ganz dunkel. Karen saß allein am Fenster im Bistro des »Rabelais«, vor sich ein Glas Rheingauer Riesling und einen ausgedehnten Feierabend. Der neue Kollege war bereits gegangen, der die »sehr verehrte Frau Kollegin« endlich einmal kennenlernen wollte. Die Verehrung, die der junge Mann mit dem unschuldigen Gesicht und den abstehenden Ohren ihr entgegenbrachte, tröstete sie nicht über ihren Tag hinweg, im Gegenteil: Seine Bewunderung war ihr bald furchtbar auf den Wecker gegangen. Karen war froh, daß er sich früh verabschiedet hatte. Wahrscheinlich hätte er dir am liebsten über seine unglückliche Ehe erzählt. Oder sich mit dir über dieselbe hinweggetröstet, analysierte sie die kollegialen Bedürfnisse kühl. Sie interessierte beides nicht.
    Draußen auf dem Weg, der am Park entlangführte, zog schon der fünfte Jogger in der letzten halben Stunde seine Bahn. Ihm hinterher ein vielleicht elfjähriger Junge, der auf seinen Rollerblades triumphierend an einem älteren Radfahrer vorbeirollte, der ihm diesen Triumph lächelnd gönnte. Unwillkürlich lächelte auch Karen. Wenigstens sah sie noch nicht alles durch den Filter ihrer schlechten Laune.
    Jetzt war es endgültig dunkel, die ersten Abendgäste kamen. Alle gut erhaltenes Mittelalter, leger, aber teuer gekleidet. Leute, dachte Karen plötzlich mit einem Anflug von Widerwillen, wie man sie haufenweise in gutsortierten, kostspieligen Abfüllstationen wie dieser hier traf: Sie konnten sich alles leisten und hatten an nichts mehr richtig Spaß. Am Nebentisch hatte ein Mann schon seit einer Viertelstunde gewartet. Nicht auf die Liebste. Und auch nicht auf den Geliebten. Der Herr, der nun zu ihm stieß und sich lautstark entschuldigte für seine Verspätung, war von jener Sorte, von der es in Schuppen wie diesem nur so wimmelte: ein Geschäftsfreund.
    Karen seufzte, arrangierte die Tischdekoration neu und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Was beklagst du dich, dachte sie deprimiert. Du gehörst doch dazu.
    Als sie jung war, hatte ihr Traum vom Luxus so ausgesehen: allein an einem Tisch in einem eleganten Bistro irgendwo in Frankreich sitzen. Ein ganzes Menü bestellen – natürlich mit Nachtisch. Dazu eine halbe Flasche Wein trinken. Und, ultimativer Luxus, ein Buch dabei lesen. Ein erfüllter Traum ist ein Traum weniger, sagte sie sich. Mittlerweile stand keine halbe, sondern meist eine ganze Flasche auf ihrem Tisch, allein war sie viel zu oft, und ausgerechnet heute hatte sie ihr Buch im Büro liegengelassen.
    Karen Stark war plötzlich der Männerwelt gründlich überdrüssig, in der sie sich Tag für Tag behauptete. Für solche Anwandlungen hast du genau den richtigen Beruf, dachte sie ironisch. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft war schließlich das angestammte Habitat der männlichen Spezies, wenn auch mittlerweile weit nach

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