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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Windeln, Fläschchen, Teddy, aus Schnullern, Tränen und Frühstücksbrot – die hatte er sich dabei nicht vorgestellt. Sie hat es gespürt, dachte er, sie hat es gewußt.
    Und Anne? Anne hatte er so lange begehrt, wie er in ihr alles sehen konnte, von dem er glaubte, daß es ihm selber fehlte: eine Frau, die zupackte, direkt war, lebenstüchtig, realistisch, offen. Und jetzt? War sie das nicht immer noch? Obwohl auch sie einem Phantom hinterhergerannt war: dem Ideal eines Mannes, den es gar nicht gab?
    Zwei Enten flogen tief über dem Fluß und zogen bei der Landung eine gischtige Spur in das träge Wasser. Paul sah ihnen mit abwesendem Blick hinterher. Was war das wohl für ein Gefühl – all die Jahre einen Menschen geliebt zu haben, der einen nur benutzt hat? Als »abzuschöpfende Quelle«? Wie hielt man das aus, so betrogen und verraten zu werden? Und wie ging man damit um, all die Jahre nicht gemerkt zu haben, daß man nicht geliebt, sondern hintergangen worden war?
    Wieso hatte sie Leos Nähe überhaupt noch ertragen? Und warum war er geblieben, auch dann noch, als es gar nichts mehr auszuspitzeln gab? Die Auftraggeber existierten schließlich nicht mehr. Und das Leben auf einem Bauernhof lieferte unter Garantie keine wichtigen Informationen. Den Wechsel der Jahreszeiten merkte man zumeist von selbst.
    Hatte Leo seine Frau womöglich doch geliebt? Trotz allem?
    Plötzlich tat Anne ihm unendlich leid. Und plötzlich war ihr Gesicht wieder da, vor seinem inneren Auge: das spöttische Grinsen, die unordentlichen Haare, die schmale Brille, die hellen blauen Augen. Und ihre schönen langen Beine. »Geh auf sie zu, du Depp«, flüsterte er sich zu.
    »Sie wird nicht wollen«, gab sein hasenherziges Ich zurück. »Sie hat im Grunde ja nie gewollt.«
    Er stand auf und schreckte die Möwen hoch, die sich auf dem Fluß hatten treiben lassen. Er überquerte die Mainbrücke und schlenderte auf der anderen Seite des Flusses zurück. Das Laub der Platanen an der Promenade hatte bereits eine durchsichtige Farbe angenommen, ein helles Grün, das noch nicht Gelb war. In einer Gartenkneipe trank er einen Apfelwein, bevor ein erster großer Regentropfen ihn aufschreckte. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen und war tiefer gesunken. Bremer nahm ein Taxi, ließ sich ins »Royal« kutschieren und kaufte sich eine Karte für die Nachmittagsvorstellung. Mit zwei weiteren einsamen Seelen saß er in dem großen Kinosaal, räkelte sich im flauschigen dunkelroten Plüschsessel und ließ, bei zwei Dosen Warsteiner und einer großen Tüte Popcorn, Mel Gibson als »Braveheart« an der Spitze der Schotten die Engländer beschämen. In früheren Zeiten hat man sich wenigstens standesgemäß raufen können, dachte er, wenn einem die Sache mit der Liebe nicht gelingen wollte.
    Am frühen Abend rief er Karen an. Ich muß über all das noch mal reden, Karen, dachte er und beschwor sie, den Hörer abzunehmen. Laß uns über die Liebe reden, sagte er ihrem Anrufbeantworter und legte resigniert auf. Nach einer halben Flasche Rotwein war er im Sessel eingeschlafen. Erst um drei Uhr nachts wankte er benommen ins Bett.
4
    Karen war mit Leidenschaft Staatsanwältin. Manche ihrer Freunde irritierte das. Meistens, fand sie, stand sie als Vertreterin des öffentlichen Interesses auf der richtigen Seite. Bei Kapitalverbrechen sowieso. Und ansonsten genoß sie, wie alle anderen Strafverteidiger auch, die Theatralik ihres Berufs. Sie inszenierte sich gern, das gab sogar sie selbst zu – zumal sie wußte, daß ihre Größe und ihre dunkle, tragende Stimme selten ihren Eindruck verfehlten: nicht auf Richter und Verteidiger. Und auf die Angeklagten sowieso nicht.
    Die Beschuldigtenvorführung heute früh allerdings hatte sie tief deprimiert. Ein afghanischer Asylbewerber, dem eigenen Bekunden nach strenggläubiger Schiit, hatte seinen achtjährigen Sohn bestialisch umgebracht. Eine völlig unverständliche Tat, der Anlaß stand in keinem Verhältnis dazu: Der Junge hatte, trotz strenger Ermahnung, an einem hohen schiitischen Feiertag mit seinen Freunden die Frankfurter Dippemess’ besucht. Seine Frau, von der der Mann annahm, sie sei auf der Seite des Kindes, hatte er gefesselt und in ein Nebenzimmer eingesperrt, den Jungen hatte er auf die Couch geworfen, ihm einen Gürtel um den Hals gelegte und zugezogen. Der Beschuldigte war in vollem Umfang geständig. Karen hatte einen religiösen Fanatiker erwartet. Statt dessen traf sie auf einen

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