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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Handtuch umgelegt und überprüfte im Spiegel ihr Gesicht, als die Callas »Sola, perduta, abbandonata« anstimmte, mit dieser vom Schmerz fast schartigen Stimme. Plötzlich spürte Karen ein ganz und gar unzulässiges Gefühl in sich emporsteigen: »Einsam, von aller Welt verlassen« – Manon Lescaut. Puccini. »Du warst zu lange allein«, durchfuhr es sie. Der Gedanke tat weh. Sie legte ihn sorgfältig beiseite.
    David hatte sie nicht gefragt, ob sie zur Vorstellung kommen würde heute abend im »Trapez«. Die Frage war auch gar nicht nötig gewesen. Dani, die diskrete Seele, verstieg sich zu keinem Kommentar, als Karen sie kurz vor der abendlichen Vorstellung anrief und fragte, ob es noch einen Platz für sie gäbe in dem notorisch ausverkauften kleinen Varieté. Für Karen, sagte sie nur, sei immer Platz.
6
    Rena hatte vom Arzt ein starkes Beruhigungsmittel bekommen und die Nacht durchgeschlafen. Als Anne am Samstag morgen nach ihr sah, schreckte sie aus dem Schlaf und brach, nach einigen Minuten benommener Orientierungslosigkeit, wieder in hoffnungsloses Schluchzen aus. Anne gab ihr eine von den drei Beruhigungstabletten, die der Arzt ihr dagelassen hatte. Jetzt schlief Rena wieder. Für Fragen der Polizei würde sie einige Tage lang nicht zur Verfügung stehen, hatte der Arzt gesagt. Anne war das ganz recht so. Rena mußte den schlimmsten Schmerz erst überwunden haben.
    Durch den morgendlichen Dunst kämpfte sich schwacher Sonnenschein. Der Hof lag wie unter einem Schleier aus Goldfäden, fand Anne, als sie aus dem Schlafzimmerfenster guckte. Auch ihr tat alles weh: vor allem die verzweifelte Trauer Renas. Kurzentschlossen holte sie ihre Reithose aus dem Schrank, zog sich um und lief auf Socken die Treppe hinunter. In der Kammer neben der Eingangstür schlüpfte sie in ihre Reitstiefel. Auf dem Weg zum Stall begegnete ihr Krysztof. »Satteln? Bucephalus?« fragte der Mann auf seine sparsame Art, an die sie sich längst gewöhnt hatte, und zog die Augenbrauen hoch. »Ja, danke!« sagte Anne und strahlte ihn an. Seine Fürsorge tat ihr gut.
    Sie schaute ihm zu beim Satteln des Pferdes, das unruhig auf den Hinterbeinen tänzelte. Der Pole redete ihm mit leiser Stimme zu – auf Polnisch natürlich. Anne verstand kein Wort. Bucephalus kriegt offenbar genug Bewegung, dachte sie mit prüfendem Blick auf die glänzende Decke des Tieres. Er wurde regelmäßig vom Ehemann einer alten Kundin geritten, die ihren eigenen Gaul bei Anne untergestellt hatte. Aber sie selbst hatte viel zu lange nicht mehr auf dem schönen Tier gesessen – genaugenommen: seit mehr als einer Woche nicht. Seit Leos Tod.
    »Kennst du mich noch?« fragte sie den Hengst, der seinen warmen Atem über ihre Hand streichen ließ, bevor er mit weichen Lippen den Apfel nahm, den sie ihm hinhielt. Bucephalus stellte die Ohren auf und ließ ein zufriedenes kleines Grummeln hören. Krysztof gab ihm einen Klaps auf das Hinterteil und öffnete das Gatter. Im Hof stieg Anne auf. Bucephalus’ Hufe klopften aufs Pflaster, der Hengst schüttelte seine Mähne und strebte ungeduldig ins Freie. Auf dem Feldweg gab sie ihm die Zügel und trabte los. Das Sonnenlicht brach sich in den Silberfäden, die zwischen den Sträuchern und Gräsern hingen, und in den Tautropfen, die auf den Blättern lagen. Über ihr kreiste ein Bussard und stieß sehnsüchtige Schreie aus. Anne fühlte ein fast vergessenes Glücksgefühl in sich aufsteigen und ließ das vor Ungeduld berstende Tier laufen.
    Als sie nach zwei Stunden zurückkam, stand Inspektor Gregor Kosinski mit der Zigarette in der Hand im Hof vor dem Pferdestall und unterhielt sich mit Krysztof, der sich auf die Mistforke lehnte, mit der er im Stall ausgemistet hatte. Als Anne in den Hof ritt, drückte er die Forke selbstvergessen dem Inspektor in die Hand, um sich von ihr die Zügel geben zu lassen. »Damit können Sie wenig anfangen, Inspektor, oder?« sagte Anne lachend und saß ab. »Wenig«, gab er zurück und hielt ihr das Werkzeug hin. Sie lehnte die Forke gegen die Wand, stützte beide Hände in die Seiten und stellte sich vor ihm auf. Sie ist wieder ganz da, dachte er angesichts ihrer blitzenden Augen mit einer Spur von Bewunderung. »Was gibt’s?« fragte sie herausfordernd.
    »Können wir reden?« Sie nickte und ging voran.
    Er wartete auf der Terrasse, bis sie sich umgezogen hatte, und rückte ihr den Stuhl zurecht. Den Aschenbecher hatte er sich selbst aus der Küche geholt. Sieh an, dachte Anne, er lebt

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