Caruso singt nicht mehr
ausgeräumt, während sie in Berlin war. Daß sie aus ihrer Akte alles erfahren würde, war ihm offenbar klar. »Was willst du jetzt hören?« antwortete er mit steifem Kreuz. »Daß alles ein großer, schrecklicher Irrtum war? Und daß die Akten lügen?« Sie schüttelte stumm den Kopf. Fast war sie ihm dankbar, daß er sie mit all den fadenscheinigen Ausreden verschonte, zu denen prominentere IM schamlos griffen. »Hast du mich nie geliebt?« Die Frage, die sie am meisten beschäftigte, brachte sie nicht über die Lippen.
»Ich werde Kiel verlassen«, sagte sie ruhig. »Brauchst du Geld?«, fragte er geschäftsmäßig. »Von deinem Kopfgeld? Von deinen Judasgroschen? Nie!« hatte sie damals stolz behauptet. Zum Schluß nahm sie alles, was sie kriegen konnte: Ihre sämtlichen Ersparnisse. Erlöse aus dem Verkauf ihrer Möbel. Die nicht gerade kleine Summe, die ihre Mutter in einem Sparbuch auf Annes Namen angelegt hatte. Und das Geld, das Leo offerierte. »Als Schmerzensgeld«, wie er ironisch kommentierte. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er eine Gegenleistung erwartete: »Keine Scheidung. Und meinen offiziellen Wohnsitz unter deiner neuen Adresse.«
»Und darauf haben Sie sich eingelassen?«
Anne hob die linke Hand und ließ sie wieder fallen. »Er war mir egal.«
Was, wie sie sich längst eingestanden hatte, gelogen war. In Wirklichkeit war sie ihrem Mann noch immer verbunden. »Über den Tod hinaus«, dachte sie mit hilfloser Wut. Untrennbar verbunden. Durch Scham.
Anne Burau schämte sich. Denn zum Betrügen und Verraten und zum Betrogen- und Verratenwerden gehörten immer zwei. Er – und sie.
»Und das ging gut bis …?« fragte Kosinski ungläubig.
Anne betrachtete ihre kurzgeschnittenen Fingernägel und den tiefen Kratzer, den der kleine, halbstarke Kater auf ihrem rechten Handballen hinterlassen hatte, der noch nicht wußte, wie man spielte.
»Gregor«, sagte sie leise. Kosinski zuckte zusammen. Er war es nicht gewohnt, beim Vornamen genannt zu werden. Seine Frau nannte ihn »Vatting«. Und seine Tochter »Papi«. Sein Vorgesetzter sagte »Kosinski«. Und alle anderen nannten ihn Inspektor.
Anne bemerkte seine Verlegenheit. »Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können«, fügte sie hinzu. »Für mich war das einzig wirklich Schreckliche …«
Ja, was? fragte sich Anne. Der Vertrauensbruch? Die Demütigung? Der Verrat? Daß so viele kleine Geheimnisse keine blieben? Die Entblößung?
Kosinski wartete. Geduldig.
»Meine Kollaboration.« Anne lachte. Kurz und unfroh.
Kosinski sah sie fragend an.
»Ich bin kein Opfer eines skrupellosen, miesen kleinen Stasi-Agenten. Ich war die Frau eines skrupellosen, miesen kleinen Stasi-Agenten.«
Ich liebte einen skrupellosen, miesen kleinen Stasi-Agenten, um die ganze blöde Wahrheit zuzugeben, dachte sie. Vorher – und nachher.
»Und mir ist bis zuletzt nicht aufgefallen«, sagte sie laut, »daß ich mein Bett, mein Leben, meine Wünsche, Vorlieben und Geheimnisse mit einem miesen kleinen Stasi-Agenten teilte.«
»Und das«, sagte Anne mit fester Stimme und sah an Kosinski vorbei. »Und das ist doch wohl wirklich mein Problem.«
Kosinski sah sie prüfend an. Er sah beharrlichen Trotz auf Annes Gesicht. Sie wollte kein Opfer gewesen sein. War sie zu intelligent, um sich in die Opferrolle flüchten zu können? Zu nachdenklich, um ihre eigene Rolle in dem Spiel zu übersehen? Zu skrupulös, um die eigene Verantwortung zu leugnen? Zu ehrlich, um einen Toten zu bezichtigen, der sich nicht mehr wehren konnte? Oder war sie einfach nur zu stolz, zu dickköpfig, um zuzugeben, was ihm logisch schien: Sie war ein Opfer. Das Opfer eines skrupellosen Mannes und eines skrupellosen Regimes.
Niemand ist gerne Opfer, dachte er. Geistesabwesend zog er den neben ihm schnarchenden Boris am Schwanz, der ihn dafür anfauchte – ohne dabei auch nur die Augen aufzumachen.
Leo Matern hatte also Geld. Und eine Operationsbasis auf dem Weiherhof. Was hatte der Mann all die Jahre getrieben?
»Hatte er – nach der Wende – Kontakte, Frau Burau?« fragte er umständlich. »Hat er Ihnen gegenüber einmal ›Isor‹ oder ›Odom‹ erwähnt?«
Anne guckte verständnislos. Kosinski lachte.
»Mal sehen, ob ich das noch zusammenkriege. ›Isor‹ ist die ›Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger der bewaffneten Organe und der Zollverwaltung der DDR‹.«
Anne stöhnte auf. Sie haßte diese Bürokratensprache und den ganzen
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