Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
der Kette, ließ sich von einem traurigen Fritz die Hand lecken und verließ mit dem Hund, der beschämt die Rute hängen ließ, den Schauplatz des Dramas.
    »Komm nach Hause, Alter«, sagte Paul und öffnete dem Hund die Wagentür. »Alles wird gut.«
    Der Schmerz des Tieres drückte ihm aufs Herz und machte ihn seltsamerweise wütend. Diese Kreatur liebte bedingungslos, absolut, bis ans Ende der Zeit. Und zwar nur den einen. Den Menschen, den er irgendwann einmal als Mutterersatz und Rudelführer zugleich erkannt hatte. Den er liebte – nicht, wie die Katzen ihren menschlichen Dosenöffner liebten: mit pragmatischer Zuneigung. Sondern treu und ergeben und unter Einsatz des eigenen Lebens. Egal ob der Mensch sich dieser Liebe auch als würdig erwies.
    Paul grauste es vor solcher Liebe.
    Während der Fahrt rollte Fritz sich auf dem Rücksitz zusammen und gab nur zweimal einen kleinen Klagelaut von sich, den Paul mit beruhigendem Zureden beantwortete. Hoffentlich war Gottfried wieder aufgetaucht. Hoffentlich hatte der Hund endlich Grund zur Beruhigung. Wie, recht betrachtet, alle anderen auch, vorneweg Marie: denn was war, zum Teufel, eigentlich los mit ihrem Mann?
    In Klein-Roda parkte Paul auf dem Stellplatz vor seinem Haus, machte die Wagentür auf und klappte die Sitzlehne zurück. »Hopp, alter Kerl! Wir sind da!« Fritz hob seinen schönen, schweren Kopf. Was für müde Augen er hat, dachte Paul erschrocken und half dem Tier, aus dem Auto zu kriechen. »Hast dich überschätzt, was, alter Herr?« Liebe verlieh Zauberkraft. Aber auch nur vorübergehend.
    »Komm, Fritz«, sagte Paul aufmunternd. Zu Gottfrieds Haus waren es nur ein paar Meter, die Friedhofstraße hoch. »Das schaffst du schon!« Der Hund stand auf unsicheren Beinen neben dem Auto und schüttelte sich. Dann gaben seine langen Beine nach. Der Alte Fritz brach zusammen.
    »Fritz!« rief Paul alarmiert und kniete neben dem Tier, das mühsam den Kopf hob, versuchte, den Blick auf Paul zu konzentrieren, aufgab und ihn wieder zur Seite sinken ließ. Fritz atmete flach, ab und an ging ein Schauer durch den alten Körper. »Fritz, zum Teufel«, flüsterte Paul, »das kannst du doch nicht machen!«
    Er stand auf und brüllte »Gottfried!« zum Nachbarn hinüber. Dann kniete er sich wieder hin und streichelte das Tier, dessen weit geöffnete Augen langsam glasig wurden, während der flache Atem in ein tiefes, rasselndes, unheimliches Luftschnappen überging, das sich wie ein menschliches Stöhnen anhörte.
    Paul glaubte nicht, daß der alte Hund noch irgend etwas wahrnahm. Trotzdem flüsterte er Koseworte, während er ihn streichelte – das schöne, samtene graue Fell des charaktervollsten Hundes, dem er je begegnet war. »Ami Fritz«, murmelte er ihm zu, »Du schöner Kerl. Du tapferer Hund. Du treues Tier.« Paul spürte, wie ihm die Kehle eng wurde, während er weiter sinnloses Zeug murmelte. »Du Braver. Du Guter. Du Bester.« Wie ein Mantra. Wie ein Gebet.
    Die Zeitspanne zwischen den Atemzügen wurde länger. Ein tiefes Röcheln noch – dann ging ein Zittern durch das Tier, und es streckte die Pfoten. Der Alte Fritz war tot.
    Paul flennte wie ein Kind. Auch noch, als Marie neben den beiden auftauchte, »Ach du liebes bißchen« sagte, sich neben Paul hockte und ihn an ihre mütterliche Brust drückte. Dann weinte sie auch.
10
    Erst um halb vier war sie eingeschlafen. Und jetzt, um fünf Uhr früh an einem dunklen Sonntagmorgen, lag sie wieder wach. Schlaflosigkeit war ein ungewohnter Zustand für Karen Stark. »Ich bin überhaupt in einem ungewohnten Zustand«, sagte sie sich nüchtern, schlug die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett. Das Oberteil ihres seidenen Pyjamas war verknittert und naßgeschwitzt. Ihr Herz raste. Ihre Augenlider waren geschwollen. Und in ihrem Kopf breitete sich eine helle, blendende Leere aus.
    Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals in ihrem Leben so hilflos gefühlt zu haben. So ratlos. So bar jeder Vorstellung, was sie zu tun und was sie zu lassen hatte. Oder? Wußte sie wirklich nicht, was anlag? Zweifelnd rührte sie in der heißen Milch, die sie sich in der Küche gemacht hatte. Für einen Kaffee war es zu früh. Fürs Aufstehen nicht. Im Bett hätte sie nur weitergegrübelt oder wäre, noch schlimmer, kurz eingedämmert, um gleich danach wieder aufzuschrecken – mit Visionen von Unglück und Unheil. Sie mußte die Augen offenhalten, dachte sie. »Sieh hin!« forderte sie sich auf. Sie nahm einen Schluck

Weitere Kostenlose Bücher