Caruso singt nicht mehr
von der heißen Milch und verzog das Gesicht. Sie hatte den Honig vergessen.
Als sie einen Löffel aus der Schublade holte und das Honigglas aufschraubte, überfiel sie eine ebenso ungewohnte wie erschreckende Erkenntnis: Sie hatte Angst. Karen schnaubte ungläubig. Wovor, zum Teufel, fürchtest du dich? fragte sie sich. Vor deinen Gefühlen? Vor einem schönen Mann? Vor einer lächerlichen kleinen Tätowierung? Oder vor der Tatsache, daß du nicht erkennen willst, was doch eigentlich ziemlich nahe liegt?
Langsam wurde ihr Verstand wieder klar. Was ist eine Tätowierung? fragte er sie streng. Eine Jugendsünde, gut. Manche lassen sich Frauennamen in die Haut sticheln, Hakenkreuze, Rosen, Totenschädel, Embleme, stolze Fregatten, Sonnenuntergänge. Und genieren sich dafür – später, wenn sie älter und bürgerlich geworden sind. Soweit, so harmlos. Trifft das aber alles auch auf die Tätowierung auf David Wlassows rechtem Unterarm zu? Ist sie harmlos – eine Jugendsünde, wie er behauptet hat?
Eigentlich gab es keinen Grund, das nicht anzunehmen, hielt sie ihrem Verstand entgegen. »Ah – ja?« entgegnete der. »Und Leo Matern?«
Karen stand vom Küchentisch auf und ging hinüber in ihr Arbeitszimmer. Sie griff sich den Briefumschlag, den sie am Freitag abend achtlos auf ihren Schreibtisch geworfen hatte, und ging zurück in die Küche. Dort war es um diese Nachtzeit weit behaglicher als in dem mit Bücherregalen bis unter die Decke vollgestellten Raum, dessen sachliche Kühle sie an ihren Beruf erinnerte – und an die klare Ordnung in ihrem Leben, die ihr seit ein paar Tagen unwiderruflich verloren zu sein schien. Die Küche – der Ort der Frau, dachte sie sarkastisch. Der Ort der Gefühle. Und der Wärme. Und was sprach dagegen? Karen fröstelte, nahm sich ihre alte Strickjacke vom Haken und legte sie sich um die Schultern.
Sie setzte sich wieder und breitete die Fotos vor sich aus, die Gregor Kosinski ihr hatte zukommen lassen. Wenn es ein Hakenkreuz gewesen wäre, das der Mörder dem Leo Matern auf den Hintern gestempelt hatte – dann läge nichts weiter Beunruhigendes in der Tatsache, daß David Wlassow das gleiche Symbol auf dem Unterarm trug. Viele junge Männer waren blöd genug, das verbotene Nazisymbol als besonders drastischen Ausdruck ihres Protestes gegen die Verhältnisse anzusehen. Vielleicht hätte man in diesem Fall David gerade noch nachsehen können, daß es in der Sowjetunion echten Mut brauchte, um ausgerechnet mit dem Hakenkreuz gegen das System zu opponieren.
Auch ein Herz, das von einem Pfeil durchbohrt wird, darinnen oder darunter ein Frauenname, war international beliebt, weshalb eine Koinzidenz wie die vorliegende – beide Männer trugen das gleiche Mal auf der Haut – nicht weiter verwunderlich gewesen wäre. Man müßte sich in diesem Fall höchstens fragen, warum der Mörder sich die Mühe gemacht hatte, ausgerechnet das Trivialste aller Bilder auf die Hinterbacke seines Opfers zu stempeln. Daß man einem besonders verhaßten Feind das Hakenkreuz aufmalte, bedurfte hingegen keiner besonderen Begründung.
Und: Ein Hakenkreuz konnte man seinem Opfer auch einritzen. Im Falle Leo Matern aber hatte sich jemand die Mühe gemacht, einen Stempel zu benutzen oder ein Petschaft, um ein viel komplizierteres Muster zu hinterlassen. So etwas machte man nicht spontan, das war geplant, vorbedacht. Der Mörder hatte seinem Opfer die Hose heruntergezogen, Stempel oder Petschaft auf ein Farbkissen gedrückt oder auf irgendeine andere Weise eingefärbt und dann – Karen schüttelte sich. Eine unangenehme Vorstellung.
Was Karen auf den Fotos des Mordopfers sah und was sie erinnerte, wenn sie den Arm Davids aus ihrem Gedächtnis abrief – das Mal, das beide Männer auf irgendeine Weise verband –, gehörte, mit anderen Worten, nicht zu den üblichen Tattoos, die Männer schätzten. »Die Koinzidenz«, soufflierte ihr Verstand in schönstem Fachjargon, »ist also signifikant.« Um so wichtiger war es herauszufinden, was die Zeichen im Inneren des Kreises bedeuteten. Das erste und das vorletzte der drei oder vier Zeichen oder Buchstaben waren identisch, das war ihr schon am Freitag aufgefallen.
Karen sehnte sich das erste Mal seit vier Jahren wieder nach einer Zigarette. Sie stand auf und stieß dabei ungeduldig den Stuhl nach hinten. »Herr, wirf Hirn vom Himmel«, murmelte sie und ging wieder ins Arbeitszimmer hinüber. Das Handbuch der Heraldik stand ziemlich weit oben, und sogar sie
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